Friedrich Torberg, 1978, vor dem Café Herrenhof in Wien I. Foto: Erwin H. Aglas, oepb
Friedrich Torberg, 1978, vor dem Café Herrenhof in Wien I. Foto: Erwin H. Aglas, oepb

Der Oberkellner Franz Hnatek ist gestorben. Vierzig von den annähernd siebzig Jahren seines Lebens war er Oberkellner im Café Herrenhof, also von dessen (des Herrenhofs) Geburt bis zu seinem (Hnateks) Tod. Denn das Café Herrenhof, Wiens letztes Literatencafé, trat erst im Jahre 1918 ins Leben, ungefähr gleichzeitig mit der Republik Österreich. Und ähnlich wie die Republik das Erbe der Monarchie antrat, trat das Café Herrenhof das Erbe des ihm unmittelbar benachbarten Café Central an.

Das „Central“ ist längst kein Kaffeehaus mehr, sondern birgt die Verkaufsräumlichkeiten einer höchst literaturfernen Im- und Exportfirma. Das „Herrenhof“ ist immer noch ein Kaffeehaus. Es ist sogar – mit Nachsicht aller von der Geschichte eingehobenen Taxen – immer noch ein Literatencafé. Als solches wurde es von einem seiner tatkräftigeren Oberkellner namens Albert durch alle Wirrnisse des Naziregimes, des Krieges und der Russenbesetzung hindurchgesteuert. Der Oberkellner Albert ist heute (nicht mit Unrecht) Besitzer des Lokals und heißt Herr Kainz.

Der Oberkellner Hnatek hieß schon als Oberkellner „Herr Hnatek“. Nicht „Herr Ober“ und nicht „Hnatek“ und schon gar nicht „Franz“ (dass er überhaupt einen Vornamen hatte, entnahm man erst dem Partezettel), sondern „Herr Hnatek“. Es ging gar nicht anders. Er war wirklich ein Herr, war es in ungleich höherem Maße als mancher von denen, die er bediente. Wenn er mit soignierter Gebärde seine hochgewachsene Gestalt dem Wunsch des Gastes neigte, verfiel man unwillkürlich in ein respektvolles Flüstern, verbreitete sich allsogleich die vornehm-diskrete Atmosphäre jener englischer Clubs, in denen Herr Hnatek seine Ausbildung genossen hatte. Es ist mir nicht erinnerlich, dass irgend jemand je ein lautes Wort zu Herrn Hnatek gesprochen hätte. Wer die Clientéle eines Literatencafés kennt, wird ermessen, was diese Feststellung bedeutet.

Indessen ist hier weder die Geschichte des Wiener Kaffeehauses noch des Wiener Literatencafés zu schreiben, nicht einmal die Geschichte des Café Herrenhof, ja nicht einmal mehr oder weniger mit ihr identische Geschichte des Herrn Hnatek. Nur um den etwa noch wissenden Zeitgenossen und ihren etwa noch wissensdurstigen Nachfahren vor Augen zu führen, welch unglaublich reiche Kulturepoche an Herrn Hnatek vorüberzog, sei hier festgehalten, dass sich unter den von ihm betreuten Gästen noch Hugo von Hofmannsthal und Franz Werfel befunden haben, Robert Musil und Hermann Broch, Alfred Polgar und Joseph Roth. Und wenn man jemandem erklären sollte, wie das Wiener Literatencafé eigentlich war und wie ein Ober in einem Wiener Literatencafé beschaffen zu sein hatte, dann würde man ihm wohl am besten eine der vielen Anekdoten erzählen, in deren Mittelpunkt Herr Hnatek stand und steht und stehenbleiben wird.

Die folgende spielt zu einer Zeit, da Franz Werfel, schon weidlich arriviert und von den Fesseln der Berühmtheit an seinem geliebten Bohémedasein weidlich behindert, nur noch in großen Abständen das Café Herrenhof aufsuchte. Und da geschah es einmal – ich war dabei, ich saß am untersten Endes des Tisches, ein junger, nachsichtig zugelassener Literaturlehrling -, da geschah es, dass Werfel, als es zum Zahlen kam, dem Herrn Hnatek wahrheitsgemäß einen Kapuziner ansagte, und dass Herr Hnatek sich mit diskreter Mahnung zu ihm herabbeugte: „Vom letzten Mal, Herr Werfel, hätten wir noch eine Teeschale braun und ein Gebäck.“ Werfel, der sich dieses beträchtlich zurückliegenden letzten Mals natürlich nicht entsann und ebenso natürlich in Herrn Hnateks Angaben keinen Zweifel setzte, entschuldigte sich hochrot vor Verlegenheit (denn er war, wie schon gesagt, um diese Zeit bereits sehr arriviert und über die Entwicklungsphase nicht beglichener Zechen längst hinaus): „Nein – aber so was“, stotterte er. „Sie müssen verzeihen, Herr Hnatek – ich weiß wirklich nicht, wie mir das passieren konnte.“

Da neigte Herr Hnatek sich abermals zu ihm und flüsterte begütigend: „Das war nämlich der Tag, an dem der Herr von Hofmannsthal gestorben ist.“ Und an einem solchen Tag, wollte Herr Hnatek andeuten, waren die Dichter so niedergeschlagen, dass man´s ihnen nicht übel nehmen konnte, wenn sie zu zahlen vergaßen …

Noch ein andrer Tag und eine andre Geschichte seien aus Herrn Hnateks reichem Leben herausgegriffen. Die Geschichte wurde mir von einem untadeligen verlässlichen Freund berichtet, einem der wenigen Herrenhof-Insassen, die ich nach meiner Rückkehr am gleichen Tisch wie ehedem und auch ansonsten völlig unverändert vorgefunden habe. Der Tag aber, um den es sich handelt, war der Tag, da die alliierten Truppen in Frankreich landeten und da im Hinterland die widerwilligen Ostmärker einander zuzwinkerten und zunickten. Auch mein Freund und auch Herr Hnatek gehörten zu ihnen, und beide wussten es voneinander. Und deshalb beugte sich Herr Hnatek beim Zahlen ein wenig tiefer ans Ohr des heimlichen Gefährten und fragte: „Glauben Herr Redakteur, dass die anderen Herren jetzt bald kommen werden?

Denn Herr Hnatek bezog die Weltgeschichte durchaus auf das Café Herrenhof und hatte für ihr Auf und Ab keinen anderen Maßstab als das Fernbleiben oder Erscheinen seiner Stammgäste. Viele, sehr viele sind nicht mehr in seine Obhut zurückgekehrt. Lasst uns um ihret- und um seinetwillen hoffen, dass es im Himmel ein Kaffeehaus gibt, in dem er sie wiedersieht.

von Friedrich Torberg, 1958

Über Friedrich Torberg

Der große österreichische Autor, Schriftsteller, Humorist, Feuilletonist, Literat und Welt-Mensch Friedrich Torberg (*16. September 1908 in Wien), der seine Wiener Wurzeln, trotz Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA, nie verloren hatte, kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine geliebte Heimatstadt zurück und wirkte hier bis zu seinem Ableben am 10. November 1979. Friedrich Torberg liebte nicht nur sein überaus zahlreiches schriftstellerisches Schaffen, es war für ihn geradezu eine Selbstverständlichkeit, Briefe von Hand zu beantworten. Am 16. Oktober 1979 wurde ihm der „Große Österreichische Staatspreis für Literatur” verliehen. Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky meinte anhand seiner Grabrede am 19. November 1979: „Er war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute und er hat für uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.” Friedrich Torberg fand am Wiener Zentralfriedhof, gleich neben Arthur Schnitzler, seine letzte Ruhestätte.

Aus Anlass des 40. Todestages von Friedrich Torberg am 10. November 2019 bringen wir in nächster Zeit hier bei uns einige seiner Werke, die er zu Lebzeiten dem oepb für die weitere Publizierung überlassen hatte.

Bitte beachten Sie auch diese Friedrich Torberg-Geschichten bei uns;

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