Dario (l.) und Daniela Amodei haben Anthropic zum wichtigsten Herausforderer von Sam Altmans OpenAI gemacht.
Foto: Bloomberg, Getty Images

Im „Harry Potter“-Universum gibt es einen Zauberer, dessen Namen niemand in den Mund nimmt: Lord Voldemort. Viel zu groß ist die Angst vor der Macht des bösen Magiers. Auch im Anthropic-Universum gibt es einen „Du weißt schon wer“, einen Gegenspieler, der besser unerwähnt bleibt. Sam Altman heißt er, führt den Konkurrenten OpenAI, und war einst Chef der Anthropic-Gründer. Fragt man diese heute, was sie über ihren alten Boss Altman denken, erntet man: betretenes Schweigen.

Selbst Dario Amodei, Gründer und Chef von Anthropic und Ex-Forschungschef von OpenAI, sagt dann Sätze wie: „Sie werden keine Antwort auf diese Frage bekommen.“ Oder: „Ich würde den Fokus mehr auf uns legen wollen.“ Schließlich sagt er dann doch noch was, aber dazu später mehr.

Anthropic ist nach OpenAI das wichtigste Start-up für Künstliche Intelligenz (KI). So wie OpenAI mit ChatGPT hat Anthropic mit Claude einen eigenen Textroboter herausgebracht. So wie OpenAI mit Microsoft hat Anthropic mit Amazon einen Tech-Giganten im Rücken. Beide Start-ups wollen den Markt für generative KI erobern, der laut dem Informationsdienst Bloomberg bis 2032 auf 1,3 Billionen Dollar anwachsen könnte. Und doch könnten beide nicht unterschiedlicher sein.

1. Technischer Durchbruch

Da ist er plötzlich, der Durchbruch. Im Frühjahr 2022 spielt Anthropic-Mitgründer Jack Clark mit „Junior“ herum, dem Vorgänger-Sprachmodell von Claude. Clark fragt das Modell, wie viele Hubschrauber ein Mensch in einer Mahlzeit essen kann. Clark hat das schon oft gefragt, die Antwort war immer ähnlich: „Drei bis vier Hubschrauber, je nach Größe der Mahlzeit“, antwortete die KI. Eine Quatschantwort einer embryonalen Technik. Doch an diesem Tag ist alles anders.

„Die KI hat mich korrigiert“, erinnert sich Clark. Die Frage ergebe keinen Sinn, Menschen äßen keine Hubschrauber. „Da wurde mir klar, dass wir vor einem wichtigen Durchbruch stehen.“ Rund 40 Leute arbeiten damals für das Start-up. Und fragen sich, ob man mit der Technik Geld verdienen kann. Gut ein Jahr ist Anthropic damals alt, gegründet im Covid-Winter Anfang 2021. Wenige Monate zuvor hatten Dario Amodei und einige Gleichgesinnte OpenAI verlassen.

Warum? Amodei, der als OpenAI-Chefwissenschaftler die Modelle GPT-2 und GPT-3 mitentwickelt hatte, lässt sich Zeit mit der Antwort. Dann sagt er: „Wir hatten das Gefühl, dass es bei den gigantischen Fähigkeiten der Modelle eine Herausforderung sein würde, sie zu kontrollieren und sicherzustellen, dass sie das tun, was Menschen von ihnen erwarten.“ Er habe schlicht eine „andere Vision als das Unternehmen“ gehabt. Im Zentrum steht die Sicherheit statt schneller Monetarisierung. „Viele, die ähnlich dachten, sind dann zu Anthropic gegangen.“

Im Sommer 2022 ist es folgerichtig Chef Amodei, der auf die Bremse tritt. Die Technik sei noch nicht reif, mahnt er, so erzählen es seine Mitarbeiter. Claude müsse erst weiter getestet werden. Das Zögern hat Folgen. Ein Konkurrent, der weniger bedächtig vorgeht, tritt ein Vierteljahr später den KI-Hype los: OpenAI, das Ende November ChatGPT veröffentlicht – und beinahe zum Synonym für KI wird.

2. Führende KI-Modelle

Dennoch wächst Amodeis Start-up rasant, hat heute mehr als 650 Mitarbeiter, davon knapp 200 KI-Forscher. Insgesamt acht Milliarden Dollar hat Anthropic eingeworben und wurde bei der letzten Finanzierungsrunde Anfang 2024 mit 18 Milliarden Dollar bewertet. Zum Umsatz macht man keine Angaben, profitabel ist Anthropic nicht – viel zu teuer sind die Investitionen in Köpfe und Infrastruktur. Auch zu den Nutzerzahlen nur so viel: Claude würden täglich „Millionen von Privatleuten und Unternehmen“ nutzen.

Auch ein Microsoft-Manager ist begeistert: „Ich nutze Claude jeden Tag.“ Bei manchen Aufgaben, zum Beispiel beim Coding, sei die KI besser als ihr Pendant von OpenAI. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, schließlich ist das Lob politisch heikel: Der Manager arbeitet in der KI-Entwicklung von Microsoft – und OpenAI ist der bevorzugte Partner, in den der Tech-Riese Milliarden investiert hat. Aber man sei „völlig offen“, betont der Manager: „Wenn unsere Cloud-Kunden Claude wollen, bieten wir das auch an.“

Derlei Lob hört man im Silicon Valley oft. Wer Claude ausprobiert hat, insbesondere die Profivariante für 20 Dollar im Monat, berichtet von starken Ergebnissen, etwa in der Texterstellung. In Vergleichstests, etwa der Eliteuniversität Stanford, schnitt Claude zuletzt gut ab – und überholte ChatGPT in manchen Kategorien sogar. Noch gibt es Halluzinationen, noch fehlen Zitierungen, „aber daran arbeiten wir“, wie Dario Amodei verspricht.

3. Fokus auf Sicherheit

Während Dario Amodei, 42, der Visionär bei Anthropic ist, sorgt seine Schwester Daniela Amodei, 36, dafür, dass aus Ideen Wirklichkeit wird. Die wichtigste Vision ist die Entwicklung einer KI, die nicht übermorgen die Menschheit auslöscht – oder heute Kundendaten missbraucht. „Sicherheit steht bei uns an erster Stelle“, sagt die Mitgründerin und Anthropic-Präsidentin.

So habe sich Anthropic dem Prinzip eines verantwortungsvollen Wachstums verschrieben („Responsible Scaling Policy“ genannt). Demnach veröffentlicht Anthropic neue KI-Funktionen erst, wenn für diese robuste Sicherheitsmaßnahmen bestehen. Die Hoffnung der Amodeis: Wettbewerber wie Google und OpenAI ziehen nach. Tatsächlich haben Letztere inzwischen ähnliche Richtlinien veröffentlicht.

Außerdem stelle Anthropic die Bedürfnisse der Nutzer an erste Stelle. „Anthropic ist der einzige Anbieter, der Kundendaten standardmäßig nicht zum Trainieren seiner Modelle verwendet“, erklärt Daniela Amodei. „Wir haben das zu keinem Zeitpunkt getan, und wir haben es auch in Zukunft nicht vor.“ Das soll vor allem Firmenkunden überzeugen.

Der Ansatz hat praktische Folgen. So bietet Anthropic bis heute keinen KI-Bildgenerator an. „Es gibt einfach viel mehr Sicherheitsprobleme, wenn man Bilder oder Videos generieren will“, erklärt Daniela Amodei. Dieses Risiko wolle man derzeit nicht eingehen. Claude könne schon heute Tabellen und Dokumente verarbeiten. „Bildgenerierung ist nichts, was von der Mehrheit unserer Firmenkunden nachgefragt wird.“

4. Zentrale Partnerschaften

Swami Sivasubramanian glaubt an Anthropic. Er ist KI-Chef von Amazons Cloud-Tochter AWS, die insgesamt vier Milliarden Dollar in das Start-up investiert hat. „Wir blicken auf eine bemerkenswerte Geschichte mit Anthropic zurück“, sagt Sivasubramanian. Gemeinsam helfe man Kunden „auf der ganzen Welt dabei, fortschrittliche generative KI in ihren Unternehmen einzusetzen.“ Kunden könnten Claude über die hauseigene Plattform Bedrock einsetzen – und seien „begeistert“ von den Ergebnissen.

Künftig dürften auch Privatkunden mit Claude in Berührung kommen: Das Modell soll nach Handelsblatt-Informationen eine zentrale Rolle beim Sprachassistenten „Alexa“ spielen.

Zu den Claude-Nutzern gehören der Tourismuskonzern Tui, der personalisierte Reiseinhalte erstellt, und der Industrieriese Siemens, der die KI für Zusammenfassungen, Übersetzungen und zur Bilderkennung nutzt. Bei der Vereinfachung von Arbeitsabläufen hilft das im Vergleich zu ChatGPT Enterprise mehr als doppelt so große Eingabefenster von Claude Enterprise, das ausgefeilten Kontext verarbeiten kann.

5. Die große Konkurrenz

Bei allem Fortschritt beherrscht dennoch ein Thema viele Diskussionen in der Anthropic-Zentrale: das liebe Geld. Erst Anfang August hatte der Erzrivale OpenAI eine Finanzierungsrunde über 6,6 Milliarden Dollar abgeschlossen.

Mit 157 Milliarden Dollar wird OpenAI jetzt neunmal so hoch bewertet wie Anthropic, was es zum zweitwertvollsten Start-up der Welt macht. Auch bei den Nutzerzahlen meldet OpenAI einen gravierenden Vorsprung: Jede Woche nutzen demnach mehr als 250 Millionen Menschen ChatGPT.

Kann Anthropic den Vorsprung noch einholen? Ja, glaubt man im Investorenkreis. Für Anthropic spreche die gut aufgesetzte Struktur und die Geschlossenheit des Teams. Im Vergleich zu OpenAI, das wiederholt von Führungskrisen und Abgängen erschüttert wurde, herrsche eine „No Drama“-Kultur, sagt ein Partner des Wagniskapitalgebers Lightspeed.

Außerdem koste das Training neuer KI-Modelle Milliarden: Tech-Riesen wie Google, Meta und Nvidia, die eigene Modelle entwickelten, hätten schlicht tiefere Taschen.

Optimistischer ist Brendan Burke vom Analysehaus Pitchbook. „Anthropic zeichnen die Betonung von Sicherheit und Datenschutz aus und der Fokus auf Firmenkunden.“ Zwar werde der Wettbewerb mit OpenAI und Co. härter. Doch die Amazon-Partnerschaft sei ein Pfund. „Es entsteht ein klarer Wettbewerb zwischen den beiden größten Cloud-Anbietern“, erklärt Burke: Microsoft setze auf OpenAI, Amazon auf Anthropic. Platz sei für beide: „OpenAI könnte sich zum KI-Anbieter für Verbraucher entwickeln. Anthropic hat die Chance, die bevorzugte Quelle für Unternehmens-KI zu werden.“

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