Der Ball kommt maßgeschneidert, perfekte Höhe, richtiges Tempo, genau im passenden Moment. Das Flutlicht am Bieberer Berg, es schimmert eher, leuchtet die Situation nur dürftig aus. Norbert Janzon weiß aber in diesem Augenblick, wo Erwin Kostedde hinlaufen wird, selbst in völliger Dunkelheit würde das genau so funktionieren. Zwei Gegenspieler bedrängen ihn, aber sie können den Offenbacher Kickers-Linksaußen nicht an dieser Flanke hindern. Der OFC liegt zurück in diesem wilden Schlagabtausch, der Vizemeister VfL Borussia Mönchengladbach führt mit 3 : 2. Die Fohlen kennen aber nur eines: immer angreifen. Deshalb kontern die Kickers, und das im eigenen Stadion.
Kostedde bewegt sich nach vorne, an seiner Seite der „Terrier“. Berti Vogts wird so genannt, der eisenharte Verteidiger. Der hat Johan Cruyff im WM-Finale im Sommer 1974 zugesetzt, war ihm gefolgt, hatte den filigranen niederländischen Superstar behakt, bedrängt, förmlich gequält – mit großem Erfolg. Vogts, der Nationalspieler, Cruyff-Bewacher und Weltmeister, ist für jeden Angreifer ein Quälgeist, er ist so erbarmungslos, vollkommen spaßbefreit im Zweikampf. Doch dieses Mal ist er chancenlos, denn der Kickers-Angreifer weiß um einen kleinen Systemfehler bei Vogts: „Kämpferisch war er ein unglaublicher Typ. Aber sein Fehler war, dass er jede Bewegung immer mitmachte.“ Denn Kostedde findet so den winzigen Raum, der ihm einen Vorteil verschafft. Als Janzons Zuspiel ihn erreicht, hat er das nötige Tempo und die optimale Position erreicht, kann den Ball mit der Brust stoppen und abtropfen lassen, lässt Vogts rechts stehen, um dann mit links Torwart Wolfgang Kleff zu überwinden. Das 3 : 3 ist eine einzige Bewegung, eine Traumsequenz für Fußballer, das gelingt nur ganz wenigen. Kostedde, der Mann mit den ungeheuren Oberschenkeln, die vermutlich noch dicker sind als die von Gerd Müller, dreht ab, jubelnd. Gerade ist ihm das Tor des Jahres 1974 gelungen, eine Ode an den Fußball, ein rarer Moment von Perfektion. Müller schoss den Siegestreffer im WM-Endspiel von München zum 2 : 1. Kostedde aber das Tor des Jahres. Der 18. Oktober 1974, ein Profi steht am Zenit seiner Karriere.
So die einleitenden Worte von Autor Alexander Heflik betreffend der Biographie ERWIN KOSTEDDE / Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler, erschienen beim Verlag DIE WERKSTATT.
Kostedde und Österreich
Die Lebensläufe gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Helmut Köglberger, der es als Österreichs erster dunkelhäutiger Nationalspieler bis zum Mannschaftskapitän der ÖFB-Auswahl im Jahre 1975 geschafft hatte, wurde ebenso als sogenanntes Besatzungskind nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1946 geboren, wie sein Pendant Erwin Kostedde. Köglberger im oberösterreichischen Steyr, Kostedde im beschaulichen Stadterl Münster im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen. Beide Knaben lernten ihre amerikanischen Besatzungssoldaten-Väter persönlich nie kennen und beide trugen zeitlebens das Kainsmal auf der Stirn, an dem sie freilich schuldlos waren. Wer kann schon etwas für seine Herkunft? Der „zivilisierte“ Mitteleuropäer sah dies naturgemäß anders und ließ den in der Öffentlichkeit stehenden Fußballern ob der nicht weißen Hautfarbe sämtliche Unmutsäußerungen zuteilwerden, die oftmals mehr als nur unterste Schublade waren. Köglberger als auch Kostedde „rächten“ sich, indem sie ihre Leistung auf dem Platz, dem Fußballplatz nämlich, zeigten. Und diese Leistungen beiderseits waren oftmals sensationell.
Autobiographie
Für Fußball-Nostalgiker, aber auch für jene, die „der guten alten Zeit“ – die, wie wir alle wissen, nicht unbedingt immer auch gut war – stets gerne Gehör und Zeit widmen, ist diese perfekte Biographie, die in mühsamer Kleinarbeit anhand zahlreicher Gespräche zwischen Autor und Protagonist entstanden ist, überaus lesens- und empfehlenswert. Das bisherige Leben des Erwin Kostedde, einer wahren Achterbahnfahrt gleichend, wurde mit sehr viel Liebe zum Detail und noch mehr kurzen Episoden und Geschichten angereichert, nacherzählt. Es gelang dem Autor, dass sich der völlig zurückgezogen Lebende ihm mehr und mehr öffnete und aufgrund des perfekt funktionierenden Gedächtnisses von Kostedde immer wieder Geschichten auftauchten, die bereits vergessen schienen. Geschichten, die auch nicht immer unbedingt ruhmreich waren, für alle Beteiligten.
Heilsbringer Fußballsport
Dem kleinen Erwin fehlte eine Vaterfigur. So sehr er sich eine Bezugsperson auch wünschte, so wenig trat diese, zumindest was die Blutsverwandtschaft anlangte, in sein Leben. Er wuchs mit sechs Halb-Geschwistern auf, hatte ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, und beschritt sehr bald schon seinen eigenen Weg. Trost fand er stets im Alkohol. Aber sein Talent, das Kicken, der Fußballsport, diesem Talent ging er nach und ist heute der Ansicht, dass er mit dieser Gabe Gottes bei weitem mehr erreichen hätte können. Wenn nicht der Alkohol, der ihn bereits seit Teenagertagen begleitete, gewesen wäre. Warum er trank? Weil er die ewigen Diskriminierungen, Beschimpfungen, Beleidigungen nicht mehr erdulden konnte – und auch wollte. Im Alkohol ertränkte er sprichwörtlich seinen Schmerz.
Mehr sei an dieser Stelle nicht mehr verraten. Eine einfühlsame Autobiographie über den ersten dunkelhäutigen Deutschen Nationalspieler, der anhand seiner Karriere in zahlreichen Vereinen in Deutschland, Belgien und Frankreich stets seinen Mann im Sturm stellte und dabei seine Tore erzielte, gelang Autor Alexander Heflik.
Eine Frage, oder vielmehr eine Überlegung, kann jedoch nie geklärt werden: Der sportliche Zweikampf zwischen Erwin Kostedde mit dem Schwarzen Adler auf der Brust für Deutschland gegen Österreichs Torschützenkönig und ÖFB-Kapitän Helmut Köglberger am 3. September 1975 im Wiener Praterstadion. Es wäre, ganz bestimmt, ein Duell gewesen, auf Augenhöhe, wie man das heute so schön formuliert. Leider fand es nicht statt, da Kostedde just jenem Kader für das Österreich-Spiel in Wien nicht angehörte …
ERWIN KOSTEDDE
Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler
192 Seiten, Hardcover
mit zahlreichen Farb- als auch Schwarz-Weiß Fotos versehen
ISBN 978-3-7307-0573-5
Zum Preis von € 19,90
www.werkstatt-verlag.de
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