Das Wiener Kaffeehaus stellt, wie der Schriftsteller Stefan Zweig in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von Gestern“ schreibt, „eine Institution besonderer Art“ dar. „Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann. In einem besseren Wiener Kaffeehaus lagen alle Wiener Zeitungen auf und nicht nur die Wiener, sondern die des ganzen Deutschen Reiches und die französischen und englischen und italienischen und amerikanischen, dazu sämtliche wichtigen literarischen und künstlerischen Revuen der Welt. So wussten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien, von jeder Aufführung, wo immer sie stattfand, und verglichen in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat vielleicht so viel zur intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt so umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte.“, so Stefan Zweig.
In der Wiener Welt von Gestern stellte das Kaffeehaus sozusagen eine Heimstätte der schreibenden Zunft dar. Die österreichische Literatur zwischen 1890 und 1938 wäre ohne Kaffeehaus undenkbar und ohne Kaffeehaus wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen. Wien, das eine Zeitlang als europäisches Kulturzentrum gelten durfte, zog viele literarische Talente aus der k.u.k. Monarchie an, und in der Metropole angekommen, zog es die meisten von ihnen in jene Cafés, welche von ihresgleichen frequentiert wurden. Das berühmteste Stammlokal der Literaten, das Café Griensteidl am Michaelerplatz, Treffpunkt der Vertreter des damaligen „Jung-Wien“, deren berühmteste Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr waren, fand nach seiner Demolierung 1896 im nahegelegenen Café Central einen legitimen Nachfolger. Und als das „Central“ 1918 seine Pforten schloss, übersiedelte ein Großteil der Stammgäste in das nur ein paar Schritte entfernte „Herrenhof“. Dieses Kaffeehaus war für mich eine zentrale Station auf dem Weg meiner Persönlichkeitsentfaltung. Im dichten Kreise der Literaten, der Lebenskünstler, von Käuzen und Originalen konnte ich herrlich heranreifen, denn dem dort so wunderbar gepflegten, zwischen Weisheit, Witz und Schlagfertigkeit angesiedelten Gesprächsstil war ich seit jeher zugetan. Dies erweiterte mein Weltbild und meine Lebenseinstellung. Ich fand schlichtweg großen Gefallen daran.
Mein Lieblingslokal war, wo ich die meisten jener konkreten Erfahrungen machen konnte, die mir als Grundlage meiner theoretischen Raum-Auffassung diente, das „Herrenhof“. Dort, „in Rauch und Mokkadampf“ gedieh „der Virus der geistigen Anregung“, erblühte Witz und Widerspruch, Argumente und Bonmots, Ideen und Anekdoten, woraus sich „die Produktivkraft des Literatencafés“ speiste.
Klingt das nicht zu schön, um wahr zu sein? Sind die Zweifel kritischer Nachgeborener am Wahrheitsgehalt solch euphorischen Überlieferungsmaterials nicht gerechtfertigt? Liegt hier nicht ein typischer Fall von nostalgischer Realitätsverkitschung vor? Ja und Nein. Einerseits schwebte der Kaffeehausgeist natürlich nicht ständig in den höchsten Regionen. Andererseits wurde ein Literatencafé nicht nur von Schriftstellern aufgesucht, sondern auch von „normalen“ Gästen – die freilich nicht selten sonderbare Erscheinungen waren und ihr kauziges Wesen zur Schau trugen. Eben diese Mischung von Menschen mit verschiedenen Berufen, Interessen und Leidenschaften schuf eine besondere Atmosphäre, welcher ich einen legendären Charakter attestierte, so wie ich das Wiener Kaffeehaus für eine der vielen funktionierenden Legenden der Stadt halte – und zwar für die weitaus komplizierteste.
Rund um das „Herrenhof“-Zentrum lagen etliche andere Kaffeehäuser, in denen ich mehr oder weniger häufig verkehrte. Etwa das Musikercafé „Parsifal“, das Journalistencafé „Rebhuhn“, oder das Café Thurygrund. Dieses unweit des Franz-Josephs-Bahnhof gelegene Lokal pflegte ich eine Zeitlang mit Ernst Stern zwischen 2 und 4 Uhr früh aufzusuchen – welcher freilich den größten Teil seiner Zeit im „Herrenhof“ verbrachte, entweder in gewinnbringenden Pokerpartien oder in platonische Debatten verstrickt. Ich war von Ernst Stern stark beeindruckt. Außer als Platoniker und Pokerspieler trat er, der mit dem schmückenden Beinamen versehene „jüdische Herkules“ auch als siegreicher Berufsringer in Erscheinung. Weiters verblüffte mich sein Schachtalent und seine Formulierungsmanier.
Vom „Herrenhof“ ins „Café de l`Europe“
Weit nach Mitternacht, als das „Herrenhof“ längst Sperrstunde hatte, zogen wir in das in der Jasomirgottstraße gelegene und bis 4 Uhr früh geöffnete, von den drei Brüdern Blum betriebene Café de l`Europe. Einer der Brüder, aufgrund bitterer Erfahrungen „der falsche Blum“ genannt, hatte einmal Nachtdienst und vermochte uns hungrigen Gästen nichts anzubieten außer Eiernockerln, zu etwas anderem reichte entweder die Phantasie oder seine Beziehung zur Köchin nicht aus. Als er auf die in Abständen wiederholte Frage, was es denn heute zu essen gäbe, mit unbekümmerter Beharrlichkeit die schon mehrmals zurückgewiesenen Eiernockerln offerierte, erhob sich Ernst Stern zu seiner ganzen Kolossalgröße und richtete die folgende Warnung an ihn: „Blum! Die Zahl der von mir angebrunzten Kaffeesieder ist Legion. Noch ein Mal das Wort „Eiernocklern ausgesprochen“ – und ich habe sie um einen vermehrt!“
Die Stammkundschaft des Café de l`Europe war ziemlich genau das, was man „gemischt“ nennt. Seine günstige Lage in der Stephansplatz-Nähe, zwischen dem Nobelstrich auf der Kärntnerstraße und dem weniger noblen auf der Rotenturmstraße, machten das Lokal zum natürlichen Sammelplatz der hüben und drüben amtierenden Damen, die sich hier von den Strapazen ihres Berufs erholen konnten, mit ihren Betreuern zusammentrafen, wohl auch einen kleinen Imbiss oder einen belebenden Kaffee zu sich nahmen und, wenn ihnen danach zumute war, mit den Angehörigen der gänzlich anders gearteten Besucherschicht, die aus uns und unseresgleichen bestand, ein wenig plauderten, ohne Hintergedanken, manchmal heiter und manchmal traurig, wie´s eben kam, manchmal Rat und Hilfe spendend, auch das kam vor, und wer da geringschätzig oder gar verächtlich von Huren spricht, lasse sich gesagt sein, dass ich in diesem Hurencafe zwischen Mitternacht und 4 Uhr früh auf mehr Beweise von Herzenstakt und menschlicher Sauberkeit gestoßen bin als in sämtlichen je von mir frequentierten Kaffeehäusern, und das will etwas heißen.
Es war eine unvergleichliche Atmosphäre, die im Café de l`Europe zwei wahrlich diskrepante Lager miteinander verband, eine Atmosphäre gelassenen Einverständnisses und wechselnden Respekts, wie er den beiden Lagern nirgends sonst zuteil geworden wäre. Natürlich kam es innerhalb des anderen manchmal zu Auseinadersetzungen, die nicht nur verbal ausgetragen wurden, zu persönlichen und professionellen Eifersüchteleien, zu Streifällen über Einbrüche in fremdes Gebiet, die nicht geduldet werden konnten, zu Verstößen gegen den akzeptierten Sittenkodex, von dessen bürgerlicher Strenge der Außenstehende nur wenig ahnt. Und natürlich wurden diese Verstöße nach eigenen Gesetzen geahndet. Denn es war eine eigene, eine wenn schon nicht heile, so doch fest gefügte Welt, und sie ist es geblieben.
Die Böhmische Liesel und „ihr“ Untergang des Abendlandes
Auch die Erschütterungen, denen sie ausgesetzt war, vollzogen sich in ihrem eigenen Rahmen. Ein überzeugendes Beispiel dafür lieferte die böhmische Liesel, so genannt nicht etwa ihrer Herkunft wegen (sie war ein resches Wiener Vorstadtkind), sondern zu Ehren ihrer aufwärtsgerichteten Stupsnase, die in Österreich als Rassemerkmal des benachbarten Tschechenvolkes gilt. Die böhmische Liesel also erschien einmal zu ungewohnter Stunde im „de l`Europe“, setzte sich allein an einen Tisch und ließ so deutliche Anzeichen von Verstörtheit erkennen, dass wir es mit Besorgnis sahen. Einer von uns, der sich besonders gut mit ihr verstand, ging zu ihr hin und fragte sie, was denn los sei.
„Hearst!“, sagte die böhmische Liesel. „Zeiten san des, Zeiten!“ Und schüttelte dabei gedankenvoll den Kopf. „Jetzt hatte i an Masochisten … der haut z´rück.“ Dass sie solches Symptom einer aus den Fugen gegangenen Zeit empfand, scheint mir fast noch bemerkenswerter, als die Entartung selbst.
Fauxpas eines Zahlkellners
Der Zahlkellner Richard pflegte seine maßvolle Dienstbereitschaft durch die Anrede „o Herr“ auszudrücken – „Jawohl, o Herr“, auf eine ungeduldige Bestellung hin, oder „Zahlen gewünscht, o Herr?“, nach mehrmals wiederholtem Zuruf. Eines Nachts flog ihm plötzlich eine Kaffeeschale an en Kopf. Er hatte die Witwe Pelikan, Inhaberin eines gut gehenden Geheimbordells und eines kräftigen Schnurrbartanflugs, versehentlich mit „o Herr“ angesprochen.
Blütezeit des Café de l`Europe
Eine mit Vorbehalt als „groß“ zu bezeichnende Zeit brach für das Café de l`Europe im Frühjahr 1933 an, als aus Deutschland die ersten politischen Emigranten ankamen und auf den Rat ihrer Wiener Freunde das „de l`Europe“ zum nächtlichen Treffpunkt erkoren. Bert Brecht und Karl Tschuppik befanden sich unter ihnen, Walter Mehring und Oskar Maria Graf und viele andere. Teils bildeten sie eigene Gruppen, teils mischten sie sich mit den Gästen der schon vorhandenen und ihrerseits gemischten Stammtische. An einem solchen Tisch geschah es, dass Brecht soeben eine in der Nachtkolportage erschienene Zeitung las, die von neuen Verhaftungen in Deutschland berichtete und zahlreiche bekante Namen nannte. Das veranlasste ihn zu der zornigen Bemerkung: „Heutzutage ist es beinahe eine Schande, nicht verhaftet zu sein!“
Ein Angehöriger des Nachtgeschäfts, zufällig neben ihm sitzend (und eher zwielichtigen Charakters), sah ihn verwundert an: „Also das kann man sich richten“, sagte er. Es war das einzigemal, dass im Café de l`Europe zwei Welten zusammenstießen, die einander nicht verstanden.
Lieblingslokal „Herrenhof“
Es gab für jeden Menschen mehrere Stammkaffeehäuser. Das heißt, man hatte gleichzeitig mehrere, ähnlich wie die Abkömmlinge bevorzugter Nationen (Schweizer z.B. und Amerikaner) gleichzeitig zwei Staatsbürgerschaften haben konnten. Ich hatte den Pass des Café Herrenhof und die Carte d`Identité des Café de l`Europe. Wann man sich wo aufzuhalten hatte, war durch Tradition und Anstand streng geregelt. War es schon einigermaßen dubios und ein Zeichen mangelnden Stilgefühls, wenn man z.B. das Frühstück statt in dem hiefür vorbehaltenen, tunlichst nahe der Wohnstätte gelegene (und eigentlich dritten angestammten) Kaffeehaus in dem doch frühestens um 3 Uhr nachmittags aufzusuchenden Herrenhof einnahm, so wäre es doch vollends eine Barbarei gewesen, etwa im Europe zu jausnen. Für mich war und blieb das Herrenhof der Mittelpunkt. Das Lokal befand sich in der Herrengasse Nr. 10 und teilte sich in zwei annährend gleich große Räume, für die eine strikte Zeit- und Sitzordnung bestand. Aus unerfindlichen Gründen galt der hintere Saal, an den sich das Spielzimmer anschloss, als der „richtige“, ähnlich wie auf den Boulevards und Geschäftsstraßen europäischer Großstädte eine der beiden Straßenseiten Vorrang genießt. An den Fenstertischen im vorderen Saal saßen die prominentesten Stammgäste schon während der frühen Nachmittagsstunden, aber erst zwischen 5 und 6 Uhr entfaltete sich in den Logen des hinteren Saals das eigentliche literarische Leben, so dass manche seiner Repräsentanten zwei Stammtische im selben Lokal beanspruchten. Es war zulässig, nur am Nachmittag oder nur am Abend zu erscheinen. Hingegen war es selbst für die Angehörigen der Spitzenklasse unzulässig, am Nachmittag hinten zu sitzen oder am Abend vorne. Wenn einer es dennoch einmal tat, dann aus bestimmten Gründen: entweder wartete er auf einen Außenseiter, mit dem er unter vier Augen reden wollte, oder er lag gerade in so heftiger Fehde mit einem anderen Stammgast, dass er nicht einmal dessen Anblick ertrug.
Aus dem Innenleben des Herrenhofs
Auf der Balustrade des Cafés befanden sich Telefonzellen, wenn einer der Gäste angerufen wurde, meldete das der Ober Hnatek von oben herab, und das klang dann zum Beispiel so: „Herr Dorbert zum Delefon!“
Zeitenwende – Wendezeiten
In der amerikanischen Emigration sammelte ich Informationen über das mir besonders am Herzen gelegene Stammcafé. 1939 wurde es zu einer Möbelfirma umgewandelt, doch später, wie mir Alexander Inngraf mitteilte, vom braven Ober albert gegen alle Versuche einer Zweckentfremdung heldenhaft verteidigt. Nach meiner Rückkehr aus den USA führte mich mein erster Weg ins „Herrenhof“. Ein schönes, ach ein wehmütiges Wiedersehen, wenngleich nichts mehr so wie früher war. Doch das wusste ich längst. Nach dem Krieg wurde es aus purer Sentimentalität von Oberkellner Albert Kainz erworben, er es weiterführte. Sehr bald schon stand nur noch der vordere Saal in Betrieb. 1958 starb der brave, getreue Franz Hnatek. Im Jahre 1960 wurde das Herrenhof endgültig gesperrt. Schon 1934, als das Prager Café Continental für immer seine Pforten schloss, verfasste ich ein „Entrefilet“. Die gleichen Schlusszeilen dabei sind auch hier angebracht.
von Friedrich Torberg, 1961
oepb-Anmerkung: Von 1967 bis 2006 wurde das Herrenhof noch als kleines Espresso geführt, platzmäßig von gut 800 auf zirka 60 Quadratmeter zusammengestutzt. Heute erinnert lediglich der aktuelle Name „Steigenberger Hotel Herrenhof“ in der Herrengasse 10 in Wien-Innere Stadt daran, dass dort in früheren Zeiten ein absoluter „Szene-Treffpunkt“ – wie dies heutzutage wohl so scheint heißt – dereinst einmal gewesen ist.
Über Friedrich Torberg
Der große österreichische Autor, Schriftsteller, Humorist, Feuilletonist, Literat und Welt-Mensch Friedrich Torberg (*16. September 1908 in Wien), der seine Wiener Wurzeln, trotz Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA, nie verloren hatte, kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine geliebte Heimatstadt zurück und wirkte hier bis zu seinem Ableben am 10. November 1979. Friedrich Torberg liebte nicht nur sein überaus zahlreiches schriftstellerisches Schaffen, es war für ihn geradezu eine Selbstverständlichkeit, Briefe von Hand zu beantworten. Am 16. Oktober 1979 wurde ihm der „Große Österreichische Staatspreis für Literatur” verliehen. Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky meinte anhand seiner Grabrede am 19. November 1979: „Er war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute und er hat für uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.” Friedrich Torberg fand am Wiener Zentralfriedhof, gleich neben Arthur Schnitzler, seine letzte Ruhestätte.
Aus Anlass des 40. Todestages von Friedrich Torberg am 10. November 2019 bringen wir in nächster Zeit hier bei uns einige seiner Werke, die er zu Lebzeiten dem oepb für die weitere Publizierung überlassen hatte.
Bitte beachten Sie auch diese Friedrich Torberg-Geschichten bei uns;