„Wenn es den Helmut Qualtinger nicht schon gäbe, man müsste ihn glatt erfinden!“ – so ein begeisterter Zuhörer beim Verlassen des Kleinen Theaters der Josefstadt im Konzerthaus am 30. November 1961 anlässlich der Bühnen-Premiere des „Herrn Karl“. Doch wie kam dieser hocherfreute Theater-Besucher zu dieser seiner Ansicht?

Das Bühnenbild

Im Keller einer Delikatessenhandlung, überall Stellagen und Kisten; auf den Regalen liegen sortiert Konserven, dazu Flaschen und Behälter aller Art. Herr Karl – ein Mann mittlerer Jahre, Schnurrbart, adjustiert mit Hut, dazu ein weißes Hemd samt Krawatte, darüber eine Wollweste und ein dunkler Arbeitsmantel – ist damit beschäftigt, die verschiedensten Waren zu ordnen. Aber tut er das wirklich? Er ist im Begriff, eine größere Kiste aufzuheben, hält aber, bevor er Kraft anwendet, inne und lässt sie stehen. Karl wendet sich dem Publikum zu und spricht zu diesem wie zu einer einzigen anwesenden Person …

Mir brauchen Se gar nix d´erzählen, weil i kenn des … De Art von Geschäften kenn i scho, do … Se san a junger Mensch … da war i scho … weil ich war auch einmal ein junger Mensch, aber das war eine andere Zeit …

Was nun folgt ist ein gut 60-minütiger Monolog, vorgetragen von einer einzigen Person. Helmut Qualtinger präsentiert den „Herrn Karl“. Und wenn man ihn da so sitzen sieht, man nimmt ihm diese Rolle ab. Ja, den Herrn Karl gibt es, seinerzeit, überall, in jeder Stadt und in ganz Österreich;

I bin immer scho der Herr Karl g´wesen. Se san a junger Bursch. Ich war in Ihrem Alter scho der „Herr Karl“.

Man hat nie gewußt, welche Partei die stärkere ist, man hat sich nie entscheiden können, wo man sich hinwendet, wo man eintritt …

Österreich hat sich erst langsam aus die Wunden, die ihm der erste Weltkrieg geschlagen hat … hat sich erst langsam die Wunden erholt.

Aber sonst ham mir a Hetz g´habt … mit de Katzen … mit de Madln … de warn vielleicht net so anzogn, wia jetzt … aber sonst … hat sich was abg´spielt … im Freien …

… san mir g´sessen mit de Madln … Ribiselwein abig´stessen, geht scho … dann hab i g´sagt: Gemma schwimmen meine Damen? San ma obi zum Wasser, ham si auszogen … i hobs hoit a bissl einkocht … Gebüsch is eh überall. De Donauauen sind ja wunderschön …

Später bin i demonstrieren gangen für die Schwarzen … für die Heimwehr … net? Hab i fünf Schilling kriagt … Dann bin i ummi zum … zu den Nazi … da hab i aa fünf Schilling kriagt … naja, Österreich war immer unpolitisch … i maan, mir san ja kane politischen Menschen … a bissl a Göd is hoit z´sammkummen.

Naja, also, mir san alle … i waaß no … am Ring und am Heldenplatz g´standen … unübersehbar warn mir … man hat gefühlt, man ist unter sich … es war wia bein Heurigen … es war wia a riesiger Heuriger…! Aber feierlich.

Dann hat er mi ang´schaut, der Führer … mit seine blauen Augen… i hab eahm ang´schaut … dann hat er g´sagt: „Jaja“. Da hab i alles g´wußt. Wir haben uns verstanden.

… an den Tag, wo man´n bekommen ham … den Staatsvertrag … Da san ma zum Belvedere zogn … san dag´standen … unübersehbar … lauter Österreicher … wia im Jahr achtadreißig … eine große Familie … a bissel a klanere halt.

Dieser eingangs erwähnte Monolog dauert eine Stunde. Herr Karl spricht zu einer zweiten, einer jungen Person, die er für das Greißler-Gewerbe anlernen soll. Dabei philosophiert er über sein Leben und kippt unaufhaltsam hinein in die Jahre der Zwischenkriegszeit, des Anschlusses bis hin zum Staatsvertrag. Unvergleichlich dabei ist auch sein imaginärer Monolog-Dialog mit der „Frau Chefin“, die er betreffend Arbeitsauffassung und -moral natürlich nicht ernst nimmt. Herr Karl war einer von vielen, ein Mitläufer, der es sich gerichtet hatte, um so gut durch die unsäglichen Jahre zwischen 1934 (Bürgerkrieg), 1938 (Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland), 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs) bis hin zu 1955 (Staatsvertrag, Neutralität Österreichs) zu gelangen. Als das Nazi-Regime vorbei war, 1945, wusste auch der Herr Karl von nichts mehr und richtete es sich erneut, diesmal mit den beiden Besatzungsmächten Sowjetunion und USA in Wien.

Die Kritik über Helmut Qualtinger´s „Herrn Karl“:

„Der Herr Karl stellt die Inkarnation der österreichischen Neurose dar.“, so Prof. Erwin Ringel (Arzt für Psychiatrie)

„Eine Schauspielerleistung, die ihresgleichen nicht hat. Eine Sehenswürdigkeit in der Raritätenabteilung des Theaters. Wer dies versäumt, ist selber schuld.“ – Friedrich Luft (Theaterkritiker)

„Der Herr Karl“ zeigt Triebregungen, die vielleicht in vielen Menschen vorhanden waren, in ihm aber unterdrückt worden sind – und – da sie uns jetzt in ihrer Nacktheit vor Augen geführt werden, erzeugen sie gerade bei den Menschen, die ebensolche Schwierigkeiten hatten, um mit diesen Triebregungen fertig zu werden, Angst und Unlust.“ – meinte Prof. Hans Hoff (Psychiater)

„Der Herr Karl“ ist das Spiegelbild einer Volksseele, Gleichnis und Demaskierung einer Mentalität. Zu Qualtinger als „Der Herr Karl“ gibt es keine Steigerung, das steht einzig und unvergleichlich darf. Das ist die Schöpferkraft eines Gesichts.“ – argumentierte der Publizist Paul Blaha.

„Der Herr Karl wollte einem bestimmten Typus auf die Zehen treten und ein ganzes Volk schreit Au!“, beschrieb Hans Weigel (Theaterkritiker und Schriftsteller) wohl am zutreffendsten den einsetzenden Sturm der Entrüstung.

Wie es zum „Herrn Karl“ kam

Der junge Schauspieler Nico Haenel, feierte 1959 im „Dachl überm Kopf“ als Götz von Berlichingen sein erfolgreiches Kabarettdebüt. Nebenbei arbeitete er als Aushilfe im Magazin des Delikatessengeschäfts „TOP“, in der Führichgasse in Wien / Innere Stadt. Im Keller des Geschäftslokals lernte Haenel einen etwa 50-jährigen korpulenten Mann kennen, der mehr philosophiert als zu arbeiten, der ständig raunzt, dem nichts recht ist und der permanent über das Leben im Allgemeinen und sein eigenes Leben im Speziellen referiert, auch anhand von Selbstgesprächen. Die Mittagspause verbrachte Haenel für gewöhnlich bei Carl Merz, wohnhaft im Nebenhaus, den er bereits vom „Kärntnertor-Theater“ her kannte. Haenel berichtete Merz immer wieder über seinen seltsamen Arbeitskollegen, bis dieser hellhörig wurde und begann, sich über diesen Ur-Wiener eifrig Notizen zu machen. Merz erzählte Qualtinger von diesem typischen Wiener Spießer und der Rest ist Österreichische Theatergeschichte. Die Premiere der Satire im ORF erfolgte am 5. November 1961 – siehe bitte das unten angeführte Video. Und als Drehort für die Fernsehproduktion wählte Helmut Qualtinger das Gutruf. Diese heutige Wiener Kaffeehausinstitution wurde 1906 von Leopoldine Gutruf (* 1877, † 1963) als Delikatessengeschäft eröffnet. Nach der TV-Ausstrahlung kam es zu zahlreichen Protesten. Viele Zuschauer erkannten sich selbst und so mancher frühere Nazi-Freund oder Mitläufer fühlte sich sehr wohl mehr, als nur auf den Schlips getreten.

Apropos: Aus Anlass des 95. Geburtstages von Helmut Qualtinger (* 8. Oktober 1928, † 29. September 1986) widmet ORF III am Freitag, 6. Oktober 2023 – ab 21.05 Uhr erzählt André Heller aus seinen gemeinsamen Jahren mit Helmut Qualtinger (Heller: „Bei dem Wetter möcht i ka Hur´ sein!“ – Qualtinger: „Bei welchem Wetter wüllst du a Hur´ sein?“) – dem unvergleichlichen Künstler einen großen Themen-Schwerpunkt mit Interview und Dokumentation! Nach dem „Herrn Karl“ um 22.40 Uhr stellt auch der Streifen „Qualtingers Wien“ um 0.35 Uhr aus dem Jahre 1997 einen wahren Filmschatz aus dem Archiv dar. Bitte frei nach Karl Farkas: „Schauen Sie sich das an …!“

Der „Herr Karl“ war somit vor über 60 Jahren geboren und ist ein wenig abgeschwächt, ob der verloren gegangen Jahre und Jahrzehnte auch heute noch als „Gelernter Österreicher“ vielseitig verwendbar. Helmut Qualtinger, damals, im November 1961, 33 Jahre jung, verkörperte diese Figur stilecht und wahrheitsgetreu. Und selbst, wenn „Der Herr Karl“ die Rolle seines Lebens war, so wäre es ungerecht, Helmut Qualtinger einzig und allein mit dem Herrn Karl zu apostrophieren. Helmut Qualtinger war ein schriftstellerisches und schauspielerisches Genie, das leider viel zu früh vom Leben abberufen wurde … „Wenn es ihn nie gegeben hätte, man müsste ihn glatt erfinden!“

Quelle: Redaktion www.oepb.at / Foto: Barbara Pflaum

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