Ansicht von Tarabya, einem historischen Stadtteil Istanbuls, Quelle: Adam Neale,
Travels Through Some Parts Of Germany, Poland, Moldavia, And Turkey, London: Longman, Hurst,
Rees, Orme, And Brown and Edinburg: A. Strahan A. Constable And Co. 1818
Copyright: Österreichische Nationalbibliothek

Ein neues Web-Portal lädt zu Streifzügen durch Jahrhunderte alte Drucke über das Osmanische Reich ein. Mehr als 22.000 Bilder werden in einer Zusammenarbeit von ÖAW, AIT und ÖNB mithilfe künstlicher Intelligenz und unter Finanzierung durch den FWF der Öffentlichkeit frei zur Verfügung gestellt.

Das Osmanische Reich war eine der beliebtesten Destinationen europäischer Reisenden in der Neuzeit. Was diese Menschen auf ihren Reisen interessierte, was sie zu sehen bekamen und was sie sich auch lediglich vorstellten, hielten sie oftmals in kunstvollen bildlichen Darstellungen fest. Einblicke in diese facettenreiche Welt erlaubt ab 20. Jänner eine neue, frei zugängliche interdisziplinäre Webanwendung: Der sogenannte ONiT Explorer macht über 22.000 Bilder aus rund 2.000 Reiseberichten, die zwischen 1501 und 1850 gedruckt wurden und in deutscher, englischer, französischer und lateinischer Sprache in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) erhalten sind, frei verfügbar und durchsuchbar.

Der italienische Gelehrte und Weltreisende Ludovico di Varthema hat im frühen 16.
Jahrhundert angegeben, er habe am Hof des Sultans zwei Einhörner gesehen. Man geht davon aus,
dass er tatsächlich Tiere gesehen hat, die an Einhörner erinnern – wahrscheinlich handelte es sich um
Oryxantilopen, die eines ihrer Hörner verloren hatten. Quelle: Lodovico de Varthema, Die Ritterlich
vnd lobwürdig reisz […], aus dem Italienischen, Straßburg: Johann Knobloch der Ältere 1516, fol.
DIIIIr. Copyright: Österreichische Nationalbibliothek

Die bildlichen Zeugnisse wurden von einem Team aus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), dem AIT Austrian Institute of Technology und der ÖNB mithilfe Künstlicher Intelligenz im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekts „Ottoman Nature in Travelogues, 1501–1850: A Digital Analysis“ (ONiT) zusammengestellt und aufbereitet.

Zwischen Fakt und Fiktion

Die enorme Vielfalt dieses digitalen Angebots erschließt sich Web-Besucher*innen schnell, egal, ob man nach „Hagia Sophia“, „Tulpe“ oder „Einhorn“ sucht. Doris Gruber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Habsburg and Balkan Studies der ÖAW, spricht mit Blick auf die in die Sammlung aufgenommenen Reiseberichte von einem „spannenden Verhältnis zwischen Fiktion und Faktualität“. Denn viele Reisende glaubten tatsächlich, Fabelwesen wie Einhörner oder Meermenschen gesehen zu haben. „In Europa hatten die meisten Menschen auch kein Nashorn in Natura beobachtet. Warum sollte es also keine Einhörner geben?“ sagt Gruber.

Darstellung eines Kranichs in einem französischen Reisebericht des 16.
Jahrhunderts. Quelle: Pierre Belon, Portraits D’Oyseavx, Animavx, Serpens, Herbes, Arbres,
Hommes Et femmes, d’Arabie & Egypte, obseruez par P. Belon du Mans […], Paris: Guillaume
Cauellat 1557, nach S. 41 Copyright: Österreichische Nationalbibliothek

Die Bilder im ONiT Explorer erlauben darüber hinaus auch Rückschlüsse auf das, was die Reisenden besonders interessiert hat. Gruber betont: „War die Forschung bislang davon ausgegangen, exotische, in Europa nicht heimische Tiere wären besonders häufig in Reiseberichten dargestellt, ist nun klar, dass das Gegenteil der Fall war. Am häufigsten finden sich Bilder von gut bekannten Tieren, allen voran Pferde und Hunde. Häufigkeit ist aber nicht gleich Relevanz. Die für die europäischen Reisenden fremden Tiere sind oftmals besonders detailreich ins Bild gesetzt.“ Im ONiT Explorer zeugen davon etwa besonders viele exotische Vögel wie Kraniche oder Fliegenschnappern. Auch Kamele und Leoparden sind zahlreich zu finden.

Hyäne oder Ginsterkatze? In einem deutschsprachigen Reisebericht des 17.
Jahrhunderts wird eine Hyäne beschrieben, aber das Bild zeigt eine Ginsterkatze. Zustande kamen
solche Fehler, weil die Abbildungen zum Teil erst im Nachhinein von Menschen geschaffen wurden, die
selbst nicht gereist waren, oder die Bilder im Zuge der Drucklegung an falscher Stelle eingesetzt
wurden. Quelle: Hans Jacob Breuning von Buchenbach, Orientalische Reyß Deß Edlen vnnd Besten,
Hanß Jacob Breüning, von vnd zu Buochenbach, so er selb ander in der Türckey, vnder deß
Türckischen Sultans Jurisdiction vnd Gebiet, so wol in Europa als Asia vnnd Africa, […] nicht ohne
sondere grosse Gefahr, vor dieser zeit verrichtet. Straßburg: Johann Carolus 1612, S. 123
Copyright: Österreichische Nationalbibliothek

KI hilft beim Füllen einer Lücke

Der ONiT Explorer lädt dabei nicht nur zum Schmökern und Schmunzeln ein, sondern füllt auch eine wissenschaftliche Lücke: Viele der nun offen zugänglichen historischen Darstellungen waren selbst der Forschung bisher unbekannt.

Besonders an dem Projekt ist darüber hinaus der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). „Die meisten bisher bekannten Bildsuchmaschinen beruhen darauf, dass Metadaten – also textuelle Beschreibungen – von Menschen eingegeben werden. Durchsucht wird dabei der Text – und nicht das Bild. Die bei ONiT eingesetzte KI hingegen stützt sich tatsächlich auf die Bilder selbst. Die Bilder werden von der KI selbständig analysiert und dadurch direkt für User*innen durchsuchbar gemacht, ohne, dass Menschen zusätzliche Metadaten eingeben müssen. Neben Texten wird somit auch bildliche Information verarbeitet, was die textuellen Suchmöglichkeiten erweitert und Bildähnlichkeitssuchen in der Webanwendung erlaubt“, sagt Gruber.

Die Nordwest-Ansicht der Hagia Sophia. Quelle: Edward Daniel Clarke, Travels In
Various Countries Of Europe Asia And Africa : Part The Second : Greece Egypt And The Holy Land ;
Section The Third. To Which Is Added A Supplement Respecting The Author’s Journey From
Constantinople To Vienna Containing His Account Of The Gold Mines Of Transylvania And Hungary,
1816, S. 566 Copyright: Österreichische Nationalbibliothek

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Das Projekt ONiT begann im Jahr 2022 und läuft bis 2025. Historiker*innen, Osmanist*innen, Computerwissenschafter*innen und Bibliothekar*innen arbeiten darin eng zusammen. Die Leitfragen des Projekts sind, welche Rolle Naturdarstellungen in den Reiseberichten spielten, ob und warum regionale Unterschiede im Laufe der Untersuchungsperiode auftraten und in welchem Verhältnis die Texte und Bilder zueinander stehen. Diese Analyse soll neues Licht auf die transnationale Umwelt- und Naturgeschichte werfen.

Die Präsentation des ONiT-Explorers findet am 20. Jänner 2025, um 17:00, im Theatersaal der ÖAW (Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien) und online statt.

Über die ÖAW

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat die gesetzliche Aufgabe, „die Wissenschaft in jeder Hinsicht zu fördern“. 1847 als Gelehrtengesellschaft gegründet, steht sie mit ihren heute über 760 Mitgliedern, 26 Forschungsinstituten sowie rund 1.800 Mitarbeiter*innen für innovative Grundlagenforschung, interdisziplinären Wissensaustausch und die Vermittlung neuer Erkenntnisse – mit dem Ziel zum wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Fortschritt beizutragen.

Website der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

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