Ein neues Web-Portal lädt zu Streifzügen durch Jahrhunderte alte Drucke über das Osmanische Reich ein. Mehr als 22.000 Bilder werden in einer Zusammenarbeit von ÖAW, AIT und ÖNB mithilfe künstlicher Intelligenz und unter Finanzierung durch den FWF der Öffentlichkeit frei zur Verfügung gestellt.
Das Osmanische Reich war eine der beliebtesten Destinationen europäischer Reisenden in der Neuzeit. Was diese Menschen auf ihren Reisen interessierte, was sie zu sehen bekamen und was sie sich auch lediglich vorstellten, hielten sie oftmals in kunstvollen bildlichen Darstellungen fest. Einblicke in diese facettenreiche Welt erlaubt ab 20. Jänner eine neue, frei zugängliche interdisziplinäre Webanwendung: Der sogenannte ONiT Explorer macht über 22.000 Bilder aus rund 2.000 Reiseberichten, die zwischen 1501 und 1850 gedruckt wurden und in deutscher, englischer, französischer und lateinischer Sprache in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) erhalten sind, frei verfügbar und durchsuchbar.
Die bildlichen Zeugnisse wurden von einem Team aus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), dem AIT Austrian Institute of Technology und der ÖNB mithilfe Künstlicher Intelligenz im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekts „Ottoman Nature in Travelogues, 1501–1850: A Digital Analysis“ (ONiT) zusammengestellt und aufbereitet.
Zwischen Fakt und Fiktion
Die enorme Vielfalt dieses digitalen Angebots erschließt sich Web-Besucher*innen schnell, egal, ob man nach „Hagia Sophia“, „Tulpe“ oder „Einhorn“ sucht. Doris Gruber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Habsburg and Balkan Studies der ÖAW, spricht mit Blick auf die in die Sammlung aufgenommenen Reiseberichte von einem „spannenden Verhältnis zwischen Fiktion und Faktualität“. Denn viele Reisende glaubten tatsächlich, Fabelwesen wie Einhörner oder Meermenschen gesehen zu haben. „In Europa hatten die meisten Menschen auch kein Nashorn in Natura beobachtet. Warum sollte es also keine Einhörner geben?“ sagt Gruber.
Die Bilder im ONiT Explorer erlauben darüber hinaus auch Rückschlüsse auf das, was die Reisenden besonders interessiert hat. Gruber betont: „War die Forschung bislang davon ausgegangen, exotische, in Europa nicht heimische Tiere wären besonders häufig in Reiseberichten dargestellt, ist nun klar, dass das Gegenteil der Fall war. Am häufigsten finden sich Bilder von gut bekannten Tieren, allen voran Pferde und Hunde. Häufigkeit ist aber nicht gleich Relevanz. Die für die europäischen Reisenden fremden Tiere sind oftmals besonders detailreich ins Bild gesetzt.“ Im ONiT Explorer zeugen davon etwa besonders viele exotische Vögel wie Kraniche oder Fliegenschnappern. Auch Kamele und Leoparden sind zahlreich zu finden.
KI hilft beim Füllen einer Lücke
Der ONiT Explorer lädt dabei nicht nur zum Schmökern und Schmunzeln ein, sondern füllt auch eine wissenschaftliche Lücke: Viele der nun offen zugänglichen historischen Darstellungen waren selbst der Forschung bisher unbekannt.
Besonders an dem Projekt ist darüber hinaus der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). „Die meisten bisher bekannten Bildsuchmaschinen beruhen darauf, dass Metadaten – also textuelle Beschreibungen – von Menschen eingegeben werden. Durchsucht wird dabei der Text – und nicht das Bild. Die bei ONiT eingesetzte KI hingegen stützt sich tatsächlich auf die Bilder selbst. Die Bilder werden von der KI selbständig analysiert und dadurch direkt für User*innen durchsuchbar gemacht, ohne, dass Menschen zusätzliche Metadaten eingeben müssen. Neben Texten wird somit auch bildliche Information verarbeitet, was die textuellen Suchmöglichkeiten erweitert und Bildähnlichkeitssuchen in der Webanwendung erlaubt“, sagt Gruber.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Das Projekt ONiT begann im Jahr 2022 und läuft bis 2025. Historiker*innen, Osmanist*innen, Computerwissenschafter*innen und Bibliothekar*innen arbeiten darin eng zusammen. Die Leitfragen des Projekts sind, welche Rolle Naturdarstellungen in den Reiseberichten spielten, ob und warum regionale Unterschiede im Laufe der Untersuchungsperiode auftraten und in welchem Verhältnis die Texte und Bilder zueinander stehen. Diese Analyse soll neues Licht auf die transnationale Umwelt- und Naturgeschichte werfen.
Die Präsentation des ONiT-Explorers findet am 20. Jänner 2025, um 17:00, im Theatersaal der ÖAW (Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien) und online statt.
Über die ÖAW
Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat die gesetzliche Aufgabe, „die Wissenschaft in jeder Hinsicht zu fördern“. 1847 als Gelehrtengesellschaft gegründet, steht sie mit ihren heute über 760 Mitgliedern, 26 Forschungsinstituten sowie rund 1.800 Mitarbeiter*innen für innovative Grundlagenforschung, interdisziplinären Wissensaustausch und die Vermittlung neuer Erkenntnisse – mit dem Ziel zum wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Fortschritt beizutragen.
Website der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Über die ÖNB
Als zentrale wissenschaftliche Bibliothek der Republik Österreich blickt die Österreichische Nationalbibliothek auf eine traditionsreiche Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurück. Sie versteht sich als dienstleistungsorientiertes Informations- und Forschungszentrum, als herausragende Gedächtnisinstitution des Landes und als vielfältiges Bildungs- und Kulturzentrum. Die Österreichische Nationalbibliothek bietet ihren Benützer*innen in 19 Lesesälen und über digitale Portale Zugang zu ihren eigenen Beständen (über 11 Millionen Objekte), aber auch zu internationalen Datenpools. In ihren acht Sammlungen bewahrt die Österreichische Nationalbibliothek als Erbe der Habsburgischen Hofbibliothek einen bedeutenden Anteil an schriftlichem Weltkulturerbe, dessen Bestand sie durch Ankäufe laufend erweitert. In den sechs Museen sind einzigartige Kunstschätze der verschiedenen Sammlungen ausgestellt. Der herrliche, barocke Prunksaal zählt zu den beeindruckendsten historischen Bibliotheksbauten der Welt.