Harald Anton, genannt auch Toni Schumacher stand am Zenit seiner Fußballer-Karriere, als er just an seinem 33. Geburtstag am Freitag, 6. März 1987 seine Memoiren veröffentlichte. Diese sollten eine Zwischenbilanz seiner bisherigen Laufbahn darstellen. Der aussagekräftige Titel „Anpfiff / Enthüllungen über den deutschen Fußball“ bedeutete für ihn jedoch den gleichzeitigen Ab- und Schlusspfiff seiner bisherigen Karriere. Die bis zu diesem Zeitpunkt wie folgt lautete:
Europameister 1980 (2 : 0-Finalerfolg über Belgien)
Vize-Weltmeister 1982 (1 : 3-Niederlage gegen Italien) und 1986 (das Endspiel gegen Argentinien mit 2 : 3 verloren)
Deutschlands Fußballer des Jahres 1984 und 1986
UEFA-Cup-Finalist 1986 (Hinspiel: 0 : 5 und Rückspiel: 2 : 0 gegen Real Madrid)
Zweitbester Spieler nach Diego Armando Maradona bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1986
Einmal Deutscher Meister (1978)
Dreimal Deutscher Pokalsieger (1977, 1978 und 1983)
Diese Titel erreichte er allesamt mit dem 1. FC Köln, für den er als Torhüter 422 Bundesligaspiele, darunter von 1977 bis 1983 213 Partien en suite, bestritt. Dazu kamen 67 Europapokal-Matches und 55 DFB-Pokal-Begegnungen. Nicht zu vergessen sind die 76 Länderspiele für Deutschland. Dies alles war Makulatur und mit einem Schlag null und nichtig, als sein Buch „Anpfiff“ im März 1987 auf den Markt kam. Schumachers eigener Abpfiff nahm von da an quasi über Nacht konkrete Formen an. Was war geschehen, was stand Verwerfliches in diesem Druckwerk, das solche Schlüsse nach sich zog? Nun, auch heute, gut 35 Jahre später, kann man bei der neuerlichen Lektüre nichts großartig Außergewöhnliches feststellen. Schumacher schrieb, dass während seiner Nationalspieler-Zeit gedopt wurde. Er berichtete, dass sich Spieler im Trainingslager statt dem Ball vermehrt dem Alkohol, dem Glücksspiel und den leichten Mädchen zuwandten. Er kritisierte Mannschafts-Kollegen, die mehr konnten, als sie taten und holte dabei zum Rundumschlag aus. Und er tippte mit erhobenem Zeigefinger Talenten auf die Stirn, die seiner Ansicht nach bei weitem mehr aus ihrer bisherigen Karriere machen hätten können. So weit, so gut.
Es ging ein heftiger Ruck durch das stockkatholische Deutschland. Es dürfe nicht sein, was nicht sein kann. Die Nationalelf besteht aus Helden, Göttern und Heiligen, die allesamt Lämmer sind – so dachte jedenfalls der Großteil der fußballbegeisterten deutschen Nachbarn. Franz Beckenbauer, damals, 1987, Teamchef, hielt Schumacher die Stange, musste diesen aber auf Druck der DFB-Granden suspendieren. In die gleiche Kerbe schlug Schumacher´s geliebter „FC“. Auch aus dem Geißbockheim trudelte der „blaue Brief“ in Hürth-Hermühlheim bei den Schumachers ein. Sein Erfolg als Bestseller-Autor setzte allerdings von da an ein. Das Buch wurde alleine in Deutschland 300.000mal verkauft, später in 15 Sprachen übersetzt und ging in Summe 1,5 Millionen Mal über den Ladentisch. Eine absolut sensationelle Zahl für ein Druckwerk. Was den damaligen Ex-Torhüter und Neo-Autor so sympathisch gemacht hatte, war der Umstand, dass er zu jedem seiner Worte in dem Buch stand. Da wurde nichts verharmlost, geschönt, revidiert und schon gar nicht entschuldigt, nein, ganz im Gegenteil. Harald „Toni“ Schumacher im Originalton: „Seit wann wird man für die Wahrheit bestraft? Ich würde alles wieder so schreiben. Lieber ein Knick in der Laufbahn, als im Rückgrat!“
Gattin Marlies war Kummer gewohnt. Spätestens seit seinem Zusammenprall mit Patrick Battiston im WM-Halbfinale gegen Frankreich am 8. Juli 1982 in Sevilla, schieden sich bei ihrem Toni die Geister. Die einen himmelten ihn an, die anderen verdammten ihn. Der Franzose, der auf einen Ball ging und im Luftkampf die Querseite Schumachers mit voller Wucht ins Gesicht bekam, blieb benommen liegen, verlor bei dieser Aktion drei Zähne und erlitt einen angerissenen Halswirbel. Schumacher war Torhüter, mit Leib und Seele. Das Deutsche Tor rein zu halten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, das war seine Bestimmung. Auch der Schiedsrichter, Charles G. Corver aus den Niederlanden, konnte kein Foulspiel erkennen. In seinem Buch schildert Schumacher detailgetreu die Spielszene. Er rechnete damit, dass ihn Battiston mit einer List überlupfen würde. Also stürmte er ihm entgegen, um dies noch rechtzeitig zu verhindern. Und als er in der Luft war, konnte er seinen wuchtigen Körper nicht mehr bremsen oder steuern. Die Begegnung stand nach 90 Minuten 1 : 1, nach 120 Minuten 3 : 3 und Deutschland gewann den Penalty-Krimi – es war dies das erste ausgetragene Elfmeterschießen in der Geschichte einer Fußball-Weltmeisterschaft – mit 5 : 4 und stand somit im Finale. Der Jubel war groß – und Schumacher war der Buhmann. Neben dem Veranstalterland Spanien hielten es auch die ausgeschiedenen Franzosen für ausgleichende Gerechtigkeit, dass Italien das Finale von Madrid gewann, und eben nicht Deutschland. Schumacher musste im Endspiel dreimal hinter sich greifen.
Wieder zurück in der Heimat im rheinischen Köln brachen für ihn und seine Familie schwere Zeiten an. Neben Telefon-Terror, Mord-Drohungen und obszönen Gesten auf der Straße oder beim Training wurde auch der Versuch gestartet, seine beiden Kinder Vanessa und Oliver zu entführen. Schumacher hätte Deutschland verlassen wollen, tat es aber nicht und hielt seinem FC die Treue. Die Zeit heilt Wunden, dachte er sich. Es kam zu einer Versöhnung mit Battiston in Metz. Der Franzose, wieder genesen und für Frankreichs Equipe Tricolore weiterhin aktiv, war ihm nicht böse und verstand seinen ungestümen Auftritt sogar. Doch die Zeit der Sühne war für Schumacher noch nicht vorbei. Am 18. April 1984 gastierte Deutschland in Straßburg. Das Meinau-Stadion wurde eingeweiht und 50.000 hitzige Franzosen waren da. Und Schumacher wäre wohl nie der Toni Schumacher geblieben, der er war, wenn er nicht den für ihn besten Weg dazu gewählt hätte: Kopf hoch, Brust raus, Augen zu … und durch! Eine Stunde noch bis zum Anpfiff. Das Stadion war voll, es brodelte. Also schnappte er sich den Ball und Horst Köppel und betrat zum Aufwärmen eine halbe Stunde vor den Kollegen den Rasen des Meinau-Stadions zu Straßburg. Das gellende Pfeifkonzert kann man sich vorstellen. Schumacher berichtet, dass er dachte, in ein Wespennest gestochen zu haben. Dieser Hass in den Augen der Besucher auf den Rängen war prägend für ihn. Die französischen Tageszeitungen trugen im Vorfeld das ihre dazu bei und berichteten tagelang weniger über das Spiel, vielmehr wurde permanent auf das fast zwei Jahre zurückliegende Foul verwiesen. Kein Wort der Versöhnung und des Verständnisses von Patrick Battiston, das interessierte in Frankreich damals niemanden.
Schumacher hielt durch. An ihm prallte alles ab. Eier, Tomaten, Äpfel, Konservendosen, ja sogar Steine wurden nach ihm geworfen. All dies war unerkannt ins Stadioninnere gelangt. Er hielt die ersten von Köppel abgefeuerten Bälle und machte sich in seiner typischen Art warm. „Pfeift ihr nur und lyncht mich in Gedanken, ich bin hier um Fußball zu spielen und um mein Tor rein zu halten!“, dies ging ihm in dieser guten halben Stunde durch den Kopf. Das Publikum beruhigte sich kaum. Erst, als die ersten Franzosen zum Aufwärmen den Rasen betraten, wurde das Pfeifkonzert leiser. Im Spiel das gleiche Procedere. Schumacher wurde hemmungslos ausgepfiffen. Und dann passiert genau das, was große Sportsleute immer wieder ausmacht – sie wachsen am Widerstand. Schumacher hielt wie in seinen besten Tagen. Kein Ball war ihm zu schwer oder schien unerreichbar, er war die sprichwörtliche „Deutsche Wand“ im Tor, für die er berühmt geworden war. Das „Freundschaftsspiel“, das für Schumacher genau das Gegenteil war, ging mit 1 : 0 an Frankreich. Im Kabinengang kam es nach der Begegnung zum Trikottausch mit Battiston. Am nächsten Tag überschlugen sich die Medien bezüglich Schumachers Paraden. Er war der Held von Straßburg, der sich von einem fanatischen Publikum nicht biegen ließ und der sein Team im Spiel hielt. Am Verlusttreffer war er schuldlos. Von jenem Tag an war die Affäre Battiston vergessen. Heute sind die beiden gute Freunde.
Marlies stand ihrem Gatten treu zur Seite. Wenn er schwach war, baute sie ihn immer wieder auf – auch dann, als sie selbst kraftlos war. Gemeinsam durchwanderten die Beiden die vielen Monate der Anfeindungen. Und nun stand sie ihrem Toni wieder einträchtig zur Seite, der drohte, nach dem plötzlichen Karriere-Aus im März 1987 in ein großes schwarzes Loch zu fallen. Die Monate vergingen, das Buch verkaufte sich hervorragend und Schumacher kam einer Katze gleich wieder auf die Beine. Der FC Schalke 04 sicherte sich im Sommer 1987 seine Dienste und Toni kehrte genau dorthin zurück, wo er am liebsten war, ins Tor. Schalke kam in diesem Jahr nicht auf Touren. Jahrhundert-Talent Olaf Thon stand mit 21 Jahren vor dem Absprung aus Gelsenkirchen und die Knappen schlingerten einem führerlosen Schiff gleich unaufhaltsam in Richtung Abgrund zu. Negativer Höhepunkt der Spielzeit 1987/88 war ein 1 : 8, nach 1 : 0-Führung, beim FC Bayern München. Die „Bild am Sonntag“ titulierte nach der vernichtenden Schlappe am 10. April 1988 folgendermaßen: „Die Bayern machten aus Toni´s Tor ne´ Schießbude!“ Sang- und klanglos stieg Schalke 1988 in die 2. Deutsche Bundesliga ab. 8 Siege, 7 Unentschieden und 19 Niederlagen, Torverhältnis 48 : 84 bei 23 : 45 Punkten (2 Punkte-Regel für den Sieg) war zu wenig. Schumacher konnte diesen Total-Absturz nicht verhindern. Wer ihn kennt, der vermag zu verstehen, was in ihm in diesem Jahr vorgegangen sein muss. Schumacher wechselte geknickt zu Fenerbahce Istanbul und der FC Schalke 04 stieg erst 1991 wieder ins Oberhaus auf.
Gleich im ersten Jahr wurde er am Bosporus Meister. Und dass gerade in Deutschland die Zeit sämtliche Wunden heilt, beweist der Umstand, dass ihn der FC Bayern München im Sommer 1991 als zweiten Torhüter verpflichtete. Schumacher stand 1991/92 noch achtmal im FCB-Tor. Ein netter Zug ist auch aus dem Ruhrgebiet bekannt. Schumacher war 1995/96 als Torwarttrainer bei Borussia Dortmund engagiert. Der BVB stand vor der gewonnenen Meisterschaft und am letzten Spieltag räumt Stammtorhüter Wolfgang „Teddy“ de Beer in der 88. Spielminute beim 3 : 2 gegen den SC Freiburg seinen Kasten. Schumacher stand am 18. Mai 1996 42jährig noch einmal im Tor und holte mit dem BVB in diesem Jahr die Deutsche Meisterschaft, seine zweite nach 1978 mit dem 1. FC Köln.
Sein Anpfiff, der zum Abpfiff wurde, war längst vergessen, eine Trainer-Laufbahn setzte ein. Auch hier ist eine unterhaltsame Episode überliefert: Schumacher war als Coach im Kölner Süden unter Vertrag. Der SC Fortuna Köln war jahrzehntelang regiert von Hans „Jean“ Löring. 26 Jahre lang war die Kölner Fortuna ein Fixstern in der 2. Deutschen Bundesliga. Am 15. Dezember 1999 hatte man Heimrecht gegen den SV Waldhof Mannheim. Die Fortuna lag zur Halbzeit mit 0 : 2 zurück. Schumacher hielt gerade seine Pausenansprache, was in Hälfte Zwei besser gemacht werden müsse, da knallte die Tür auf und Mäzen „Schäng“ Löring stapfte herein. Zitat Löring: „Hau app in de Eiffel. Du määs minge Verein kapott. Du häss he nix mie zu sare!“ (Hau ab in die Eiffel. Du machst meinen Verein kaputt. Du hast hier nichts mehr zu sagen.)
Co-Trainer Ralf Minge wollte Löring besänftigen, erfolglos. Schumacher verließ wortlos die Kabine. Löring nahm in der zweiten Halbzeit selbst auf der Trainerbank Platz, die Fortuna verlor mit 1 : 5. Nach dem Spiel anhand der Pressekonferenz verlautbarte das Fortuna-Urgestein Löring wort- und gestenreich: „Ich als Verein musste ja reagieren!“ Um nach dem Konsum eines Weinbrandes hinzuzufügen: „Ich bin einmalig!“ Die Fortuna stieg unter Schumacher-Nachfolger, dem Österreichischen Goleador Johann „Hans“ Krankl im Sommer 2000 aus der 2. Deutschen Liga ab und kehrte bisher dorthin nicht mehr zurück. Harald „Toni“ Schumacher schrieb bereits 1987, dass er irgendwann einmal Präsident bei seinen Geißböcken sein möchte. Dieser Wunsch ging ihm in Erfüllung, ab 2012 – bis 2019 – bekleidet er das Vize-Präsidenten-Amt des 1. FC Köln. Gleich in seinem ersten Jahr gelang ihm der Schachzug der Verpflichtung des österreichischen Meister-Trainers Peter Stöger. Der Wiener, der mit seinem Stammverein FK Austria Wien 2012/13 mit dem damaligen absoluten Punkterekord von 82 Zählern Österreichischer Champion geworden war, brach quasi über Nacht in Wien-Favoriten alle Zelte ab und übersiedelte zum im Jahre 2013 noch Zweitligisten 1. FC Köln. Schumacher sollte Recht behalten, Stöger passte ins Rheinland wie das „Kölsch“ und der Dom zur Stadt Köln und mit „Der launischen Diva vom Rhein“ ging es Jahr für Jahr bergauf.
Harald „Toni“ Schumacher ließ sich nie verbiegen und ging unbeirrt seinen Weg. Er repräsentierte eine Type im Deutschen Profi-Fußball, die es heutzutage nicht mehr gibt. An solchen Charakteren schieden sich die Geister, wegen solcher Spieler gingen die Leute auf den Platz und in die Stadien. Und er würde – auch heute noch – alles wieder so machen.
Quelle: Redaktion www.oepb.at
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