Wie zum letzten Wochenende bekannt wurde, verstarb mit Michael Tönnies ein absolutes Urgestein des deutschen Revier-Fußballs. Tönnies, der seine beste Zeit beim MSV Duisburg hatte, wurde lediglich 57 Jahre alt. Im Jahre 2005 wurde bei dem starken Raucher ein Lungenemphysem im Endstadium festgestellt.
Dies warf ihn dermaßen aus der Bahn, dass ihn viele Wegbegleiter und Freunde bereits abgeschrieben hatten. Doch er rappelte sich wieder auf, kam zurück, und wurde nach einer erfolgreich verlaufenen Lungentransplantation bei seinem Herzensklub MSV Duisburg 2013 sogar Stadionsprecher. Umso unverständlicher war nun sein plötzliches Ableben am 26. Jänner 2017 in einem Essener Spital. Die „Zebras aus dem Revier“, der MSV, widmete das gestrige Heimspiel gegen den VfL Osnabrück ganz dem Andenken an den ehemaligen Bomber. Schließlich scorte der bullige und sympathische Stürmer – den alle Welt „Tornado“ rief – in 179 Spielen für „seinen“ MSV 101 mal.
Mehr über das Leben und Wirken von Michael Tönnies ist in seinem Buch „Auf der Kippe“ detailgetreu nachzulesen:
Jener Buchtitel, den Autor Jan Mohnhaupt für sein Werk gewählt hat, klingt zweischneidig. Einerseits wählt der deutsche Staatsbürger – vornehmlich aus dem Berliner Raum – gerne diese Bezeichnung für eine Zigarette. Kippe bedeutet allerdings auch den Balanceakt zwischen Sein und Nicht-Sein.
Auf Michael Tönnies traf beides zu. Kippen und Tschick (österreichisch), also Zigaretten, in zahlreicher Form genossen, gehörten ebenso zu seinem Leben, wie urige Verweil-Kneipen und Beisln im Ruhrgebiet – aber auch der Torjubel im Fußballsport und der Drang danach, es allen immer wieder aufs Neue beweisen zu müssen. Die Kippen waren es auch, die Tönnies beinahe das Leben gekostet hatten. Aber mehr dazu in diesem Buch.
Jan Mohnhaupt liebt den MSV. Der Meidericher Spielverein, heutige MSV Duisburg trägt seit je her den Beinamen „Die Zebras“ aufgrund der quergestreiften Trikots, die sich im Laufe der Geschichte kaum verändert hatten. Den MSV gibt es schon lange, genau genommen ewig. Seit 1902. Mit 8 Jahren war er im Wedaustadion zu Duisburg gewesen. Und traf auf Michael Tönnies. Dieser absolvierte gerade das Spiel seines Lebens.
Mit 6 : 2 zertrampelten die Zebras den Karlsruher Sport-Club, in dessen Tor damals ein gewisser Oliver Kahn gestanden hatte. Man schrieb den 27. August 1991. Der MSV war nach neunjähriger Abstinenz in diesem Sommer wieder in die 1. Deutsche Bundesliga zurückgekehrt. Mit gestandenen Bundesliga-Größen wie Lothar Woelk (vormals jahrelang beim VfL Bochum) sowie Ewald Lienen (UEFA-Pokalsieger, Meister und Cupsieger mit dem VfL Borussia Mönchengladbach), aber auch der Treffsicherheit von Michael Tönnies kehrten die Zebras ins Oberhaus zurück. Und man etablierte sich in der Bundesliga. Das Auftaktspiel gewann man gleich mit 1 : 0 und der VfB Stuttgart, der zum Ende der Saison 1991/92 Deutscher Meister werden sollte, verlor in Duisburg „Dank“ eines Tönnies-Treffers.
Und dann der 6. Spieltag. Der MSV stand als Aufsteiger gut da. 6 Zähler (bei 2-Punkte-Regel für den Sieg) und ein Platz im Oberen Tabellendrittel. Und dennoch gab es zahlreiches Gemurmel im Zebra-Stall, weil Tönnies nicht traf. 15.000 Zuschauer pilgerten unter der Woche zu diesem Match und sollten Augenzeugen einer Gala und Sternstunde des 31jährigen bulligen Angreifers werden. Michael Tönnies erledigte den KSC quasi im Alleingang, er scorte an diesem Abend 5mal und sorgte auch für den schnellsten Hattrick (drei aufeinander folgende Tore in einer Halbzeit) in der Deutschen Bundesliga, der selbst heute noch, 24 Jahre später, Bestand hat.
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Es sprach aber auch für Tönnies, das Spielfeld in der 80. Minute zu verlassen (für ihn kam Michael Struckmann) und sich so zwar die stehenden Ovationen der MSV-Anhänger abzuholen, im Gegenzug gelang ihm an diesem Tag jedoch alles und er hätte in eventu sogar den Uralt-Torrekord von Dieter Müller, nämlich 6 erzielte Volltreffer in einem Spiel vom 17. August 1977, einstellen oder sogar überbieten können. Doch dieser Jubel um seine Person war ihm schon wieder zuviel und er gab sich mit dem an diesem Tag Erreichten mehr als zufrieden.
So verlief auch seine Karriere. Michael Tönnies, geboren 1959 in der Ruhr-Metropole Essen, galt zu seiner Zeit als absolute Stürmer-Nachwuchshoffnung in Deutschland. Er liebte jedoch seine Region und die unmittelbare Umgebung und wollte von zu Hause nie weg. Jede Reise mit den Nachwuchsteams des DFB waren ihm ein Gräuel und am liebsten hätte er nur im Ruhrgebiet gekickt. Heute sagt er über sich selbst, dass er aus seiner Laufbahn viel mehr hätte machen müssen und als ihn der große FC Bayern München einst haben wollten, glaubte er zuerst an einen schlechten Scherz und war dann froh, dass er nicht nach München wechseln musste. Die Anekdote im Buch über die Anbahnung dieses Wechsels auf der Herren-Toilette nach einem Pokalspiel zwischen Bocholt und den Bayern regt zum Schmunzeln an.
Michael Tönnies zählte zu jener Kaste Fußballspieler, die es heute nicht mehr gibt. Man traf ihn beim Metzer (Fleischhauerei), im Supermarkt, aber auch in diversen Lokalen. Er war ein Kicker zum Angreifen und Plaudern und er hatte für seine zahlreichen Anhänger stets ein offenes Ohr. Er genoss allerdings auch den Rummel um seine Person und feierte oftmals seine Tore bis tief in die Nacht hinein. Viele Trainer wollten ihn ändern oder verbiegen. Es misslang insofern, in dem er stets und gerne dann das Weite suchte und einfach woanders anheuerte. Sogar bis nach Bayreuth führte ihn dann sein Weg, trotz Heimweh. In der Hochburg Richard Wagners wurde er nie heimisch und nach nur einem Jahr ging es zurück in sein geliebtes Nordrhein-Westfalen.
Seine Laufbahn war ein stetes Auf und Ab zwischen Oberliga, 2., 1. und 2. Bundesliga und auch seine Vereine hatten immer die unterschiedlichsten Ziele vor Augen. Aber eines tat er für alle Teams, er traf und erzielte Tore – am Fließband.
Nach dem Karriere-Ende fiel Michael Tönnies in ein Loch, niemand konnte ihn auffangen. Er investierte in ein Lokal, in dem es sehr bald schon hieß, dass er der beste Kunde sei. Er rauchte wie ein Schlot, trank mehrmals über den Durst und zockte mit den Stammgästen. Seine Familie bekam ihn kaum noch zu sehen und Tönnies musste in späterer Folge die Scheidung akzeptieren. Der Lebenslauf nach unten ging indes fröhlich weiter. 80 Kippen pro Tag sorgten sehr bald dafür, dass die Lunge nicht mehr mitkam. Er, der zwar nie als Laufwunder galt, aber doch ein bulliger Vollblutstürmer war, konnte die Stiegen und Treppen nicht mehr steigen. Es bleib ihm schlichtweg die Luft weg. Michael Tönnies war am Ende, er gab sich auf. Was zur Folge hatte, dass seine Eltern und sein Bruder, die sich immer um ihn kümmerten, auch diesmal nicht fallen ließen und er sein altes Zimmer im elterlichen Wohnhaus wieder bezog. Dieses lag jedoch im 1. Stock und mangels Luft war es ihm sehr bald unmöglich, am Familienleben, welches im Erdgeschoss des Hauses stattfand, aktiv teilzunehmen. Er zog sich mehr und mehr in sein Schneckenhaus, bestehend aus zwei Räumen, zurück und vegetierte vor sich hin. Genau genommen war er fertig, mit sich, seiner Welt und seinem Leben.
Bis eines schönen Tages die Frage im World-Wide-Web auftauchte, was eigentlich aus Michael Tönnies geworden war. Zahlreiche MSV-Fans fragten vermehrt nach bis die schlimme Wahrheit ans Licht kam. Michael Tönnies ist todkrank! Doch der MSV und seine Freunde wäre eben nicht der MSV, wenn man sich nicht an den gefallenen, aber großen Sohn von einst erinnerte. Kurzer Hand wurde eine Benefiz-Gala für ihn im Wedaustadion organisiert und ab März 2012 ging es mit ihm, langsam aber sicher, wieder bergauf. Nach der Fahrt in die Grube und dem beinahe erfolgtem „Schicht im Schacht“ ging es für ihn wieder an die Oberfläche zurück ans Licht. Michael Tönnies raffte sich auf, hörte auf zahlreiche Helferleins aus seiner Umgebung und unterzog sich einer mühseligen Lungentransplantation. Dass diese, wie sehr viel in seinem Leben, nicht reibungslos und ad hoc über die Bühne ging, versteht sich hier wohl leider gewissermaßen von selbst.
Aber er kämpfte, so wie einst auf dem Platz, rackerte, fiel hin, um wieder aufzustehen. Oftmals wollte er sich austauschen lassen, abgehen und nach Hause, doch der Zuruf der immer noch zahlreich präsent gewesenen Fans und Freunde, die ihren großen Duisburger Sohn, der eigentlich aus Essen stammte, nicht aufzugeben, stachelte ihn immer wieder an.
Die Operation glückte – nach x-maligen Fehlversuchen im Vorfeld. Die Zigaretten als Kippen des Todes sind ausgeraucht und das zahlreich verlorene Gewicht näherte sich wieder seiner Normalform, nachdem er vor der Operation fürchterlich abgemagert war. Michael Tönnies fand den Weg zurück und ist heute seinen zahlreichen Mitstreitern und Begleitern sehr dankbar. Heute präsentiert er in der „Schauinsland-Reisen-Arena“, dem vormaligen Wedaustadion zu Duisburg die Mannschaftsaufstellung des MSV und zu guter letzt, und damit schließt sich wohl der Kreis, kehrt der MSV Duisburg nach zwei Spielzeiten in der 3. Liga in diesem Sommer 2015 erneut in die 2. Deutsche Bundesliga zurück. Über 31.000 Zuschauer waren letzten Samstag aus dem Häuschen, als der MSV den größten Konkurrenten um den direkten Aufstieg, Holstein Kiel, mit 3 : 1 nach Hause schickte. Michael Tönnies war dabei und freute sich im Kollektiv mit.
Jan Mohnhaupt, 32jähriger Autor und Journalist gelang es, eine eindrucksvolle und teilweise auch überaus traurige Erzählung seines einstigen Idols Michael Tönnies aufzuzeichnen. Die Lebensgeschichte liest sich wie ein Roman, der jedoch tatsächlich stattgefunden hat. Mohnhaupt und Tönnies, ein Fan und sein Idol, haben zusammengefunden und gemeinsam den Weg aus dem größten Karriere-Tief gefunden. Ein authentisches Ruhrpott-Original lebt weiter.
Auf der Kippe
Die zwei Leben des Michael Tönnies
von Jan Mohnhaupt
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, sowie einigen Fotoseiten
www.werkstatt-verlag.de/?q=node/739
ISBN 978-3-7307-0165-2
auch als E-Book erhältlich
www.werkstatt-verlag.de