Der Wiener Sport-Club war in Österreich in den ausgehenden 1950er Jahren das fußballerisch betrachtet absolute Aushängeschild. Die Meisterschaften wurden 1957/58 mit 45 Punkten und 100 : 35 Toren, sowie 1958/59 mit 46 Punkten und 104 : 35 Toren in jeweils 26 Meisterschaftsrunden zweimal vor dem SK Rapid Wien gewonnen, und auch den Torschützenkönig mit Walter Horak (1958) und Erich Hof (1959) – jeweils mit je 33 Volltreffern aus eben diesen 26 Partien – stellten die schwarz-weißen Dornbacher.
EC der Landesmeister
Da war es nur allzu verständlich, dass man dem Debüt im – im Sommer 1955 – neu etablierten Europacup der Meister (heutige UEFA Champions-League) entgegenfieberte. Und die Premieren-Auslosung brachte für den WSC einen wahren Brocken mit sich. Mit der großen „alten Dame“ des italienischen Fußballs Juventus Turin hieß es in der 1. Runde im Europacup der Landemeister die Klingen zu kreuzen. Eine schier unlösbare Aufgabe zeichnete sich ab, umso mehr, da das Hinspiel in Turin am Mittwoch, 24. September 1958 vor 30.000 Zuschauern im Stadio Comunale verloren ging. Zwar „nur“ mit 1 : 3 (Pausenstand war 1 : 1), aber gegen den lediglich 163 cm großen argentinischen Stürmer der Italiener Omar Sivori, der an jenem Abend alle drei Tore für die Juve erzielte, schien kein Kraut gewachsen zu sein. Walter Horak war der zwischenzeitliche Ausgleichstorschütze für den WSC beim 1 : 3 im Hinspiel.
Wer war Juve 1958?
Juventus Turin repräsentierte bereits seinerzeit eine andere Fußballwelt. Die beiden „Fiat-Chefs“ Gianni und Umberto Agnelli unternahmen alles, um die Mannschaft nicht nur zur Besten Italiens, sondern auch gleich des ganzen Kontinents zu machen. Zum 190 cm Riesen im Sturm William John Charles aus Wales, der einer der gefürchtetste Kopfballspieler seiner Zeit war, kam der oben erwähnte körperlich „kleine“ Südamerikaner Omar Sivori, der zwar als undiszipliniert galt, aber ein wahrer Goalgetter war, hinzu. Und der 30-jährige Stürmer Giampiero Boniperti – der seine ganze Laufbahn bei Juventus Turin unter Vertrag stand – galt ohnehin bereits als Vereinsikone. Und die weiteren Größen in den Reihen der Juve wie Giuseppe Corradi, Rino Ferrario, Flavio Emoli, Gino Stacchini standen im Aufgebot der Squadra Azzurra, der italienischen Fußball-Nationalmannschaft.
Optimist Pesser
WSC-Coach Johann Pesser galt im Vorfeld des Rückspiels als unverbesserlicher Optimist. Er nannte ein eventuelles drittes Spiel, das die endgültige Entscheidung um Sein oder Nichtsein mit sich bringen würde, als vorrangiges Ziel. Dies hätte allerdings bedeutet, dass der Wiener Sport-Club mit zwei Toren Unterschied das Rückspiel für sich entscheiden würde. Nun, dieses Husarenstück trauten ohnehin die allerwenigsten den Dornbachern zu.
Rückspiel in Wien
Einheitlich in blauen Klubsakkos und grauen Hosen perfekt gekleidet landeten die Juventus-Spieler im kühlen Wien am Flughafen in Schwechat. Die italienischen Profis betrachteten das Rückspiel gegen die Wiener Halbamateure lediglich als lästige Pflichterfüllung, vertrat man doch die einhellige Meinung, dass der 3 : 1-Erfolg vom Hinspiel für ein Weiterkommen gegen diese österreichische Mannschaft sehr wohl genügen würde.
Mittwoch, 1. Oktober 1958, Praterstadion, 19 Uhr
Eine Begegnung dieser Größenordnung fand natürlich im Wiener Stadion statt. Ein lauer Abendsturm blies durch die Prater-Auen und 34.000 Zuschauer pilgerten ins Stadion, teilweise optimistisch, doch vermehrt ängstlich bangend und hoffend, dass ihr WSC heute in kein fußballerisches Debakel laufen würde. Doch es sollte alles anders kommen:
23. Minute: 1 : 0 aus einem Freistoß von Karl Skerlan
33. Minute: Josef „Pepi“ Hamerl gelingt sein erster von vier Treffern an jenem Abend. Trainer Hans Pesser hätte nun im Fall des Falles (sein) Entscheidungsspiel, wenn das Ergebnis so bleiben würde. Doch das tat es nicht;
34. Minute: das 3 : 0 durch Pepi Hamerl bedeutete gleichzeitig den Pausenstand. Die Sensation bahnte sich an …
63. und 80. Minute: 4 : 0 und 5 : 0 abermals durch Josef „Pepi“ Hamerl.
82. Minute: Primgeiger Erich Hof kam aus einem Elfmeter zum 6 : 0 auch noch zu seinem Tor, ehe ihm in der 85. Minute noch der unglaubliche Endstand von 7 : 0 an einem denkwürdigen Abend in Wien gelang.
Unsportliches Juventus
Die Italiener waren schlechte Verlierer. Als sich das für sie unerwartete Ausscheiden mehr und mehr abzeichnete, packten einige von ihnen die sprichwörtliche Sense aus und mähten alles nieder, was schwarze Hosen und rote Trikots trug. Ja, der WSC spielte am Tag seines allergrößten Triumphs in der Vereinsgeschichte nicht in den obligatorischen schwarz-weißen Dressen, sondern überlies ganz „Gastgeber-freundlich“ den Gästen ihre Traditions-Trikots, die ebenso schwarz und weiß sind.
Das größte Kompliment
für den Wiener Sport-Club unterbreitete der extra nach Wien geeilte Ungar Emil Östreicher, der Manager von Real Madrid. Während sich die italienischen Gazetten für Juventus „schämten“ und vom „Größten Debakel einer italienischen Mannschaft aller Zeiten“ schwadronierten, meinte Östreicher: „Die Wiener spielten zeitweise so schön wie einst Honved Budapest.“ Um das heute richtig zu deuten, muss man wissen, dass Honved in den frühen 1950er Jahren fünfmal die Meisterschaft gewann und zu einer Zeit, als es noch keinen Europapokal gab, als beliebter und zugkräftiger Gegner für Freundschaftsspiele galt. Darüber hinaus bildeten die Honved-Spieler das Gerüst jener Goldenen Mannschaft der Ungarn, deren sich herannahende sportliche Ende in der Niederlage anlässlich des „Wunders von Bern 1954“ gegen Deutschland zu finden war.
Reise durch Europa geht weiter
Für den Wiener Sport-Club ging die Reise durch das fußballerische Europa nun munter weiter. Anhand des Aufstiegs über Dukla Prag, das damals schier ident mit der tschechoslowakischen Fußball-Nationalmannschaft war (3 : 1 in Wien vor 54.000 Zuschauern im Stadion und 0 : 1 in Prag) überwinterte man in diesem Bewerb und traf im Frühjahr 1959 auf Real Madrid. Hier passierten am 4. März 1959 offizielle 78.652 Zuschauer die Drehkreuze ins Wiener Praterstadion, was damals einen neuen Stadion-Besucherrekord bedeutete. Diese Menschenmassen erlebten ein torloses Remis. Beim Rückspiel in der spanischen Hauptstadt in einem ausverkauften Estadio Santiago Bernabeu mit 125.000 Zuschauern setzte es allerdings dann ein 1 : 7-Debakel für die nervösen, aber tapfer kämpfenden Dornbacher.
EC der Meister 1959/60
Und auch im Europacup der Landesmeister 1959/60 sorgte der Wiener Sport-Club für zahlreiche Bewunderung. Über Petrolul Ploiesti (0 : 0 in Wien vor 50.000 Besuchern und 2 : 1 in Rumänien) und Odense BK (3 : 0 auswärts, 2 : 2 im Prater vor 8.500 Fußball-Anhängern) überwinterte man erneut im EC der Landesmeister. Hier sollte im Frühjahr 1960 abermals ein fetter Fisch auf die Wiener warten. Die SG Eintracht Frankfurt war im Viertelfinale der Gegner und der Wiener SC verlor auswärts denkbar knapp mit 1 : 2. Zum Rückspiel am 16. März 1960 kamen abermals über 45.000 Zuschauer ins Praterstadion und erlebten einen ebenbürtigen Wiener Sport-Club, der den Deutschen ein beachtliches 1 : 1 abringen konnte, für den Aufstieg reichte es jedoch nicht mehr.
65 Jahre später
Die sportlichen Wege dieser beiden Vereine verliefen in den vergangenen 65 Jahren in unterschiedliche Richtungen. Während Juventus Turin heute als italienischer Rekordmeister gilt, der zweimal, nämlich 1985 und 1996, auch den EC der Landesmeister gewann, ebenso allerdings im Laufe der Geschichte aufgrund von Manipulationen auch schon einmal die Ligazugehörigkeit am grünen Tisch entzogen wurde, stand der Wiener Sport-Club damals am absoluten Zenit seines Seins. Der WSC gehörte der neu etablierten Österreichischen Fußball-Bundesliga im Sommer 1974 nicht an, stieg ebenso am „grünen Tisch“ trotz Qualifikation ab.
1977 dann die Rückkehr ins Oberhaus und am Ende der Saison 1978/79 österreichischer Vizemeister hinter dem FK Austria Wien. Im Sommer 1994 erfolgte der endgültige Abschied aus dem Oberhaus. Der Verein wurde sogar bis in die Wiener Liga hinunter durchgereicht. Aktuell spielt man in der Regionalliga Ost in der 3. Leistungsstufe und träumt mit seinem stimmungskräftigen und treuen Anhang von besseren Zeiten in den schwarz-weißen Dressen. Der 1. Oktober 1958 allerdings stellt in den WSC-Annalen einen Feiertag dar, der damals von Emil Östreicher sogar als „Welt-Sensation“ apostrophiert wurde.
Möge der vierfache Torschütze an jenem Abend das letzte Wort haben: „Es war das Spiel einer echten Mannschaft, die mit Begeisterung an der Sache war, nicht das Match eines einzelnen Aktiven. Einer musste halt die Tore schießen.“, so Josef „Pepi“ Hamerl, dem im übrigen diese vier Tore den Weg als Legionär zu Real Madrid geebnet hätten. Der bescheidene Hamerl blieb allerdings lieber in Dornbach bei seinem Wiener Sport-Club.
Quelle: Redaktion www.oepb.at
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