Vor 50 Jahren, am Abend des 15. August 1973, ereignete sich im Deutschen Klubfußball eine Zuschauerkulisse, die davor noch nicht erreicht wurde und dem Vernehmen auch danach nie mehr wieder erzielt werden wird. Wie kam es dazu?
Olympiastadion München
Mit der offiziellen Eröffnung des Münchner Olympiastadions am 26. Mai 1972 – die DFB-Auswahl bezwang in einem freundschaftlichen Länderspiel vor knapp 80.000 Zuschauern die Sowjetunion mit 4 : 1 – wurde nicht nur die Vorfreude auf die anstehenden XX. Olympischen Sommerspiele 1972 zu München, ebenso „Olympische Spiele im Grünen“ genannt – eingeleitet, auch die beiden Lokalmatadore, der TSV München von 1860 und der FC Bayern München, sollten von nun an quasi „Schulter an Schulter“ ihre Heimspiele im neuen weiten Rund auf dem Oberwiesenfeld austragen.
Beide Teams, die davor ihre Heimspiele auf „Giesings Höhen“ im Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße gespielt hatten, profitierten unterschiedlich von der neu erschaffenen Olympia-Schüssel. Während sich „die Roten“ von Anbeginn an mit der neuen Zeit im neuen Stadion anfreunden konnten und die Anlage dabei eine nicht unwesentliche Rolle am unaufhaltsam einsetzenden Aufstieg des FC Bayern zum dominierenden Team Deutschlands spielte, zierten sich „die Blauen“ des TSV von 1860 und wären liebend gerne in ihrem angestammten Stadtteil Giesing geblieben. Als dann auch noch in der Nacht vom 12. auf den 13. November 1972 ein starker Sturm große Dachteile der „Stehhalle“ im „Sechzger“ abdeckte und somit lüftete, häuften sich die kritischen Stimmen, das alte Stadion doch abzureißen und bitteschön durch dringend nötige moderne Wohnanlagen zu ersetzen. Nun, um es kurz zu machen, der TSV von 1860 München bestreitet heute noch im angestammten und am 21. Mai 1911 eröffneten Stadion an der Grünwalder Straße seine Heimspiele.
FCB setzt TSV unter Druck
Die Bayern nutzten im neuen Stadion die Gunst der Stunde. Nach 1971/72 holten die Roten auch 1972/73 die Deutsche Meisterschaft an die Isar. 33.529 Besucher im Schnitt konnte der FCB in dieser Meistersaison für sich verbuchen, während die Löwen im gleichen Jahr in der Regionalliga Süd – damals der Vorläufer zur 1974 gegründeten 2. Deutschen Bundesliga anzusehen – lediglich 13.823 Zuschauer durchschnittlich pro Heimspiel hinter sich wussten. Um den FCB nicht noch weiter enteilen zu lassen, musste man also endlich wieder aufsteigen, denn bereits seit 1970/71 dümpelte man in der zweiten Leistungsstufe herum. Mit einem neuen Trainer, dem Weltenbummler Rudi Gutendorf sollte dieses Unterfangen gelingen. Gutendorf, der seine Kicker auch schon einmal am frühen Morgen durch die Münchner Innenstadt jagte, um dem arbeitenden Volk zu zeigen, dass auch beim TSV von 1860 zeitig „gehackelt“ wird, galt als Verfechter des Defensivfußballs. „Riegel-Rudi“ erreichte so mit dem Meidericher SV – heute besser als MSV Duisburg bekannt – im ersten Jahr der neu geschaffenen 1. Deutschen Bundesliga 1963/64 die Vize-Meisterschaft hinter dem 1. FC Köln. Er sollte es nun also auch bei den Löwen richten.
Weiß-Blaue Euphorie
Das, was sich der TSV 1860 München durch all die Jahrzehnte seiner Existenz stets bewahren konnte, war die Euphorie seiner treuen Anhänger. Mit neuen Namen und guten Ergebnissen steht der Löwe sofort wie eine Wand hinter seiner Mannschaft. Sollte es aber sportlich nicht ganz so nach Wunsch laufen, dann kann er auch schon einmal vergrämt ein Match seines Klubs verschlafen. Und die Saison startete verheißungsvoll. 4 : 0 gewannen die Löwen am 12. August 1973 beim SSV Jahn Regensburg und lachten mit diesem Sieg als Zweitplatzierter in der Tabelle von der Spitze. Und auch der FC Augsburg startete mit einem 2 : 1 gegen den 1. FC Nürnberg – beide Vereine rechneten sich ebenso gute Aufstiegschancen aus in jenem Jahr – verheißungsvoll in die neue Spielzeit 1973/74.
Im Olympiastadion brechen alle Dämme
Was sich dann an Maria Himmelfahrt, am Mittwoch, 15. August 1973 in München abspielte, war in dieser Art und Weise noch nie dagewesen und sprengte alle Erwartungen. Der FC Augsburg reiste zwar lediglich als Aufsteiger an, mit dem gebürtigen Augsburger und ehemaligen Nationalspieler Helmut Haller im Gepäck plante der FCA allerdings auch den sportlichen Durchmarsch. Es schien also nicht weiter verwunderlich, dass sich gut 35.000 Anhänger aus Augsburg die etwa 65 Kilometer lange Anreise nach München unter dem Motto „Hallerluja“ nicht entgehen lassen wollten. Dem gegenüber stand der euphorisierte Löwen-Anhang, der sein Team auf einer Welle der Begeisterung so gerne in die 1. Deutsche Bundesliga tragen wollte. Und während es ab 18 Uhr auf der Autobahn für die Augsburger bereits 46 Kilometer vor dem eigentlichen Zielparkplatz nur mehr im Schritttempo voranging, füllte sich das weite Rund des Münchner Olympiastadions zusehends. Zum Anstoß um 20 Uhr war die Schüssel mit knapp 80.000 Besuchern restlos gefüllt. Draußen vor den Kassenhäuschen standen allerdings noch tausende Fußball-Anhänger beider Lager, die zum Einlass drängten. Und als Werner Luxi in der 3. Spielminute das 1 : 0 für die Löwen gelang, brachen alle Dämme. Knapp 400 Ordnungskräfte schienen heillos überfordert, die Leute drängten zu den Einlasskontrollen, kraxelten über den zweieinhalb Meter hohen Zaun, erklommen die Kassenhäuserln, um von dort oben direkt hinein ins Stadion zu springen, oder aber rissen ganz einfach einen Zaun nieder. Als die Ordner schließlich die Tore öffneten, war der Tumult bereits in vollem Gange. Später sprachen die Offiziellen von über 90.000, die Dunkelziffer von bis zu 100.000 Menschen im Olympiastadion, in der 2. Liga wohlgemerkt. Am Tag danach dann die ernüchternde Bilanz: 147 Verletzte, die meisten davon mit Schnittwunden und Prellungen. 70 Sanitäter und zwei Ärzte im Stadion hatten die Verletzten notversorgt. 35 Personen kamen mit ramponierten Sprunggelenken ernsthaft zu Schaden und lagen in den umliegenden Krankenhäusern. Wie durch ein himmlisches Wunder hat es an diesem Himmelfahrtstag keine Toten gegeben.
Ein kurzes Video zum Spiel finden Sie bitte hier:
Kurioses am Rande
Bei aller Begeisterung um den TSV von 1860 rechneten die Verantwortlichen im Vorfeld mit lediglich 50.000 Zuschauern. Dies deswegen, da im Vorverkauf für diese Partie knapp 10.000 Karten abgesetzt wurden. Und die Spieler am Rasen bekamen von den Tumulten draußen vor den Stadiontoren ohnehin nichts mit. Klaus Vöhringer gelang in der 11. Minute der Ausgleich zum 1 : 1, dem späteren Endstand dieser denkwürdigen Rekord-Partie. Übrigens – in der 1. Deutschen Bundesliga hält den Allzeitrekord in Sachen Zuschauerkulisse die „große alte Dame“ Hertha BSC Berlin. An einem Freitag-Abend, den 26. September 1969 pilgerten offizielle 88.075 Zuschauern gegen den 1. FC Köln ins Berliner Olympiastadion nach Westend. Und auch hier ist die Dunkelziffer groß und man spricht von knapp 100.000 Stadion-Besuchern in Berlin. Apropos Olympiastadion, in diesem Falle München. Die Spielwiese dort war für die Münchner Löwen nicht unbedingt ein schlechtes Pflaster. Von 221 Bundesliga- und 63 Zweitligaspielen gewann der TSV 1860 München 139 Matches und spielte 62-mal Unentschieden.
Werner Luxi
der Löwen-Torschütze zum 1 : 0 nach drei Minuten, konnte freilich für seine euphorisierende Wirkung, die in späterer Folge eine ganze Kettenreaktion auslöste, nichts. Er stand von 1971 bis 1976 beim TSV 1860 München unter Vertrag, erlitt jedoch zwei Kreuzbandrisse und wechselte später zum Sportbund SB Rosenheim. Der TSV blieb der zweiten Leistungsstufe noch vier Jahre erhalten und stieg erst 1977 wieder ins Oberhaus auf. Und Werner Luxi, der Münchner aus dem Schlachthofviertel, dessen Großeltern einst am Viktualienmarkt eine Fleischhauerei betrieben, gelang in seiner ganzen Karriere nur ein einziger Treffer für den TSV, am Abend des 15. August 1973 um 20.03 Uhr …
Quelle: Redaktion www.oepb.at